Kulturhauptstadt

“… eine richtige Metropole …”

Kirche Kultur und Politik nach der Katastrophe | Teil [1]

“Paris Paroli bieten”: Pressefoto der RUHR.2010

Man habe die Loveparade “nur ideell unterstützt”, heißt es bei RUHR.2010, man sei “nicht verantwortlich”. Als sei es selbstverständlich, dass man mit dem, was man “nur ideell” tut, nichts zu tun hat. Als seien Ideen beliebig, weil unwirklich, und unwirklich, weil wirkungslos. Reine Glaubenssache eben: “Jede Vision braucht Menschen, die an sie glauben”, heißt es bei RUHR.2010. Wirklich jede? Es gibt eine politische Verantwortung für die Katastrophe von Duisburg und eine kulturpolitische, um sie geht es hier.

“Eine richtige Metropole kann das stemmen.”

Das war der Satz, mit dem Dieter Gorny, rkünstlerische Direktor der RUHR.2010, im Januar begründet hat, warum die Loveparade  –  “eine Million Gäste”, “internationale Leuchtkraft”, “wirtschaftlicher Segen”  –  trotz aller Sicherheits- und Finanzierungsprobleme durchzuführen sei anstatt “klein beizugeben”.

Ein Satz, der mächtig klingt und sich doch selber bezweifelt, ob das mit der Metropole wohl “richtig” sei: Diese Metropole braucht eine Menge Menschen, die an sie glauben.

Die Loveparade sollte eine Art Glaubensstütze werden, eine “Säule” im Programm der Kulturhauptstadt, das war die Idee. Die Idee der Kulturhauptstadt selber war eine andere, sie hieß “Region lebt Stadt”, das war das “Leitmotiv der Bewerbung”.

Im ersten  –  angenehm zu lesenden –  “Skizzenbuch zur Bewerbung” aus Juli 2003 ging es um eine “schrumpfende Stadt”, der es trotz ihrer “kulturellen Entwicklungsleistungen” an “kultureller Haftungskraft” fehle und an dem, was sie sehr schön eine “Verführung zum Bleiben” nannten:

„Während die Zahl der Gastspiele in Aufführungen und Ausstellungen stetig gestiegen ist, kann vom Verbleib oder der Mehrung kreativer Kräfte in der Region nicht das gleiche festgestellt werden. Zu den Ursachen dafür lässt sich vieles sagen. Jedenfalls mangelt es nicht an der Dichte von Spielstätten und Programmen aller Art, sondern es mangelt an einem kulturellen Klima, in dem die Künste schon im Alltag selbst ihre Gegenwart beweisen. Es mangelt an schöpferischen Milieus.“

Da sich schöpferische Milieus “nicht künstlich züchten” ließen, müssten sie gefördert und zu einer “Angelegenheit von öffentlichem Interesse” werden. Und so drehten sich die “Skizzen und Ideen” um solche Dinge wie “stadtübergreifende Netzwerke”, um solche Ideen wie “Ein Fest für Zehntausend” und um “das neue Selbstbewusstsein der Region”, das dazu befähige, “den Mitbewerbern um den Titel auf Augenhöhe gegenüber zu treten”. Mitbewerber waren Städte wie Münster, Bamberg oder Augsburg.

Aus dieser Zeit stammen auch die “Themenfelder”, die es bis heute gibt, also die “Stadt der Kulturen” und die der “Künste” und die der “Möglichkeiten”. Damals hießen sie allerdings “Region als Stadt der Kulturen” und “Künste” und “Möglichkeiten”: Es ging in allem immer um “Stadtwerdung” und, wenn schon was Großes und irgendwas mit Metropole, dann um die “erste Stadtgründung des 21. Jahrhunderts“ mit dem Ziel, “aus einem Städtehaufen eine Kulturmetropole” zu machen.

Auch das “Bewerbungsbuch”, das ein Jahr später erschien, führt den Begriff der Metropole nur beiläufig an  –  Essen sei “Energie- und Dienstleistungsmetropole”, heißt es irgendwo  –  und argumentiert beharrlich mit den Begriffen “Gebiet” und “Stadt” und “Raum” und “Landschaft”.

Diesem Tonfall entsprach auch die Begründung der nationalen Jury, in der das Ruhrgebiet auf Augenhöhe mit Görlitz als Kulturhauptstadt empfohlen wurde. Kriterium der Jury im März 2005 war u.a. die Frage:

Wo bleibt die Würde des Lokalen, wie bewahrt es seine Aura, seinen Sinn als Heimat ihrer Bürger in einer globalisierten Zivilisation? Wie bauen wir Gegenwart in die Zukunft fort, die wir immer weniger in der Hand haben; wie verwenden wir den gebauten Stoff der Vergangenheit  –  und ihre Lücken (und Brachen) –  für eine Zusammenhalt, der die Bewohner nicht zu Nomaden macht, sondern zum Bleiben verlockt, zum Dasein ermutigt?

Sie lesen sich gut, die Texte aus der Zeit der Bewerbung, es ging um schöpferische Milieus anstatt um kreative Klasse, es ging ums Ruhrgebiet und nicht um Florida.

Und dann ging es plötzlich um London und Paris, im Juni 2007 machte die WAZ mit der Überschrift auf:

    Ruhrgebiet als neue Metropole. Pleitgen will London und Paris Paroli bieten

Ein Jahr zuvor war die Ruhr2010-GmbH gegründet worden, und seitdem klingt, was bestenfalls witzig sein könnte, sehr ernst und falsch. Gestern Dorsten, morgen London, eben noch Bochum, ab morgen Paris, wo ist man gerade und wo will man hin? Fritz Pleitgen im Interview mit der SZ aus April 2007:

    Wir wollen erreichen, dass diese Region, die bis jetzt unter dem Etikett Schwerindustrie gesehen wird, als eine der reichsten Kulturregionen des Kontinents erkannt wird mit Modellen, die für andere interessant sind; dass von hier Impulse ausgehen, dass man das Ruhrgebiet als Boomregion betrachtet, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in Ideen: Das ist eine Bonanza, eine Ideen-Bonanza. Dass das Ruhrgebiet auf die Weltkarte gebracht wird, ist mein ganz schlichter Anspruch.

Eine Bonanza auf der Weltkarte? Es ist nicht so, dass es an Witz fehlte, sondern dem Witz fehlt es an “Haftungskraft”, also an eben dem, worum es einmal ging, die “Verführung zum Bleiben”. Verführung auch dazu, am Boden zu bleiben. Nur dass die Ruhr-GmbH zu eben dieser Zeit ein Weltraum-Foto vertreiben ließ, das solange bearbeitet worden war, bis die Bonanza als eine von drei Energieherden Europas erschien, 7 x größer als Berlin:

    “Wir spielen mal Metropole

gab Oliver Scheytt später offen zu, und wie die Weltraum-Phantasie anfing, die 2010-Präsentationen zu prägen, fand im August 2007 die erste Loveparade im Ruhrgebiet statt:

„Der Ort ist perfekt gewählt. Auf einer Fußgängerbrücke am zentralen Pferdemarkt gibt Rainer Schaller den großen Impressario (…) Wie ein ergriffener Feldherr lässt Schaller den Blick über die wogenden Massen in der Straßenschlucht schweifen. Zwar hatte der örtliche Feuerwehrchef in der Lokalpresse verkündet, dass die Stadt bereits ab 400 000 Besuchern ‘voll’ wäre, doch solche nüchternen Einschätzungen passen hier nicht ins Bild.“

berichtete der Berliner TAGESSPIEGEL über “die größte Loveparade aller Zeiten”, wie es auch damals schon Tage vorher hieß. So sind die Regeln, wir spielen Metropole. Was aber nur die wissen sollen, die selber nicht mitspielen: Oliver Scheytt hatte die Formulierung Ende 2009 in einem Interview mit dem österreichischen STANDARD benutzt.

“Wir behaupten das einfach”,

sagte er auch am 9. Januar 2010 im Interview mit der bayrischen SZ: Offenbar ist es so, dass sich die Maßstäbe bewahren, sobald man sich selber von außen sieht, ohne ins Weltall zu türmen. Deshalb konnten wohl auch die Tourismus-Texter der Kulturhauptstadt mit diesem Satelliten-Foto wenig anfangen, der Vers, den sie sich machten, klang ganz nett:

    “Reisen Sie in eine Metropole, die es noch gar nicht gibt.”

Jetzt  gibt es diesen Vers nicht mehr, jetzt heißt es:

    “Es ist deine Metropole. Es liegt in deiner Hand.”

Nur was ist Es? Man sei halt eine “Metropole neuen Typs”, heißt es dann bei RUHR 2010. Was eben noch “schrumpfende Stadt” war, sei “Metropole im Werden”, und was kein Zentrum hat, habe darum besonders viele. So teilt man leichtsinnig Antworten aus und nennt, was hoch ist, niedrig und Niedriges hoch.

Es mag ein Spiel sein und diese Metropole ein Spielraum der Freiheit, aber hier wird mit Begriffen hantiert, als seien sie bloß Spielmarken und bunte Labels, die man den Dingen anhängen kann. Als gäbe es keine Entsprechung zwischen Begriff und dem, was er begreifen lässt  –  so aber ist Wahrheit definiert, als adaequatio rei et intellectus. Hier dagegen wird der Begriff wie ein Türschild auf die Wirklichkeit geklebt, die zusehen muss, dass sie sich “neu erfindet”.

Das ist nicht ohne erhellende Funktion, das Zusammenrechnen von Zahlen  –  soundsoviel Theater, soundsoviel Museen, soundsoviel usw.  –  imponiert ja gerade deshalb, weil es den Kleinglauben blamiert, der hier regiert. Es steckt ein kritisches Potential darin, eine Idee vor Augen zu stellen und die Wirklichkeit zu animieren, sich nach der Idee zu strecken.

Nur dass dies kritische Potential, das in der Bewerbungsphase zu spüren war, sich selber unterläuft: Eine Idee, die wie ein Logo aufgeklebt wird, findet nirgends festen Halt. Man heftet sie sich an die Brust, und dann ist es egal, wie breit die Straßen sind, die Brust ist breiter.

Die Metropole neuen Typs ist die gespielte, sie verhindert, was sie verheißt. Das wäre für sich genommen gleichgültig, entsetzlich aber ist daran, dass sie, die Idee urbaner Verdichtung, sich als ihr eigenes Zerrbild verwirklicht hat.