“… den Mythos begreifen …”
Kirche Kultur und Politik nach der Katastrophe | Teil [3]
Toni ist ein Fußballgott, Grönemeyer Kult und Ruhr ein Mythos. Höhere Weihen werden hier schnell verliehen, und allen ist klar, dass sie uneigentlich sind. Eigentlich nämlich sei es so, wie Grönemeyer textet, dass “dich hier kein Schaum erschlägt”. Besucherzahlen, sagte Duisburgs OB zur WAZ, “wurden immer um den Faktor drei oder vier übertrieben”.
Zum “Mythos Ruhr” zählt nun also auch der Mythos von Millionen, die Loveparaden bilden:
“Hier das Leben, da der Mensch, dicht an dicht”.
Man wird Grönemeyers “Komm zur Ruhr”, aus der auch diese Zeile stammt, nie wieder unschuldig hören. Es gibt eine kulturpolitische Verantwortung für die Katastrophe von Duisburg, um sie geht es hier.
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Der Kulturpolitischen Gesellschaft hatte Oliver Scheytt Ende 2009 die “Kernaufgaben der Kulturhauptstadt” aufgezählt:
„Die Identifikation nach innen stärken, die Identität nach außen tragen und damit einen Imagetransfer vom alten Ruhrgebiet zur neuen Metropole Ruhr schaffen.“
Das Problem mit solchen Sätzen ist, dass sie richtig sind und völlig falsch. Natürlich wäre die Dreieinigkeit von Identifikation, Identität und Image richtig großartig, nur dass zwei von drei Faktoren falsch sind in dieser Gleichung und weder das ersehnte Image – “neue Metropole” – noch die fällige Identifikation – “altes Ruhrgebiet” – stimmt. Weswegen “Identität”, also das, was sich zwischen dem Woher und Wohin entwickeln möchte, in der Luft hängt (in between würden die Texter von RUHR.2010 vermutlich sagen).
Der Reihe nach: In seinem Kulturstaat Deutschland (2008) hat Scheytt Identität als “das ‘Eigenbild’ der Person oder der Personengemeinschaft” beschrieben, sie bilde sich als “Summe der Faktoren, die dieses Bild inhaltlich festlegen”.
In der Tat ist es so, dass Identität durch Identifikation entsteht, das heißt durch mehr oder weniger freiwillige Angleichung an das, was man nicht ist. Identifikation ist eben nicht Selbst-, sondern Fremdbestimmung,
“Angleichung eines Ich an ein fremdes”,
wie Freud schrieb. Daher ließe sich, was Scheytt eine “Identifikation nach innen” nennt, allenfalls als Angleichung an ein fremdes Innen verstehen – in diesem Zusammenhang also das “alte Ruhrgebiet”.
Erst da jedoch, wo man in der Lage ist, sich auseinander zu setzen mit dem, was einem zusetzt, entwickelt sich ein Eigenbild, eine Identität: Voraussetzung dafür also die Fähigkeit, sich mit sich selber auseinander zu setzen, die Identifikation mit seiner inneren Entfremdung zu suchen.
Wo das ausbleibt, gerät RUHR.2010 in eine Situation, die an den Radwechsel von Brecht erinnert: Man ist nicht gern, wo man herkommt, hat keine Vorstellung von dem, wo es hin gehen soll, sitzt aber ungeduldig am Straßenrand und soll einen Imagetransfer organisieren.
In so einer Situation kommt es nun auf das an, was oben “Faktoren” hieß: Was alles soll, wenn das Rad gewechselt ist, mit auf die Imagereise gehen? Zu viel darf es nicht sein und vor allem – ein Rad ist schließlich schon gebrochen – nicht zu schwer, und so sitzt man am Straßenrand auf seinen Koffern und sichtet die Garderobe. Fritz Pleitgen:
„Ganz oben steht Solidarität. In schwierigen Verhältnissen mussten die Menschen zusammen stehen. Das zweite ist Toleranz (…) Da man aus verschiedenen Ländern kam, hatte man Verständnis für den anderen. Und schließlich der unbedingte Wille, immer wieder aufzustehen. Das ist für mich in Kurzform der Mythos Ruhr. Dieser Geist ist noch da und von dem gehen wir aus.“
Im 2010-Programm wird dieser Geist in seine Bestandteile zerlegt: Beim Mythos Ruhr, heißt es da, handele es sich um den
“Mythos von Kohle und Stahl, von harter Arbeit und Solidarität”
sowie um den “Mythos vom” – es folgen: – Fußball, Zusammenleben, Einwanderung, Heimatverbundenheit, Wirtschaftsboom und Ende einer Epoche.
Erhellender aber ist wie immer das, was fehlt. Wo “harte Arbeit” Mythos wird, taucht Arbeitslosigkeit nicht auf; wo ein “Wirtschaftsboom” erinnert wird, fehlen die, die ihre Lungen dafür gaben; wo “Solidarität” gefeiert wird, fehlt die Erinnerung an die, die in Lager gesperrt wurden; beim Lob des “Zusammenlebens” fehlen die Erschlagenen, und wo es um “Heimatverbundenheit” geht, fehlen die, die vertrieben worden sind.
Zwei Weltkriege wurden hier produziert, der melting pot war lange Jahre Volksgemeinschaft, aber all das versinkt im Mythos wie die Sonne hinterm Doppelbock.
Mythos ist, was nützt. Darüber ließe sich nun länger lamentieren – dass Geschichte als Stofflieferant einer Imagekampagne dient; dass vorab festgelegt wird, was Resultat sein soll; dass kein Mythos Identität, wohl aber Identität ein Mythos ist – wäre nicht eh wieder allen klar, dass es nie darum ging, etwas zu “begreifen”, sondern es zu “behaupten“:
Vom Mythos Ruhr zu reden, ist so unernst wie zum Fußballgott zu beten.
Wir spielen nur. “Wo man nicht dem Schein erliegt / weil man nur auf Sein was gibt”, da spielen wir Mythos, spielen Metropole, spielen mit Deutungen, die nichts bedeuten, und Antworten, die niemand verantworten muss. Wir spielen Kulturhauptstadt, ein Spielraum der Freiheit, 4.435 qkm weit und so breit wie der Tunnel in Duisburg.