… die Leere in ihr …
Kirche Kultur und Politik nach der Katastrophe | Teil [5]
Wäre die Katastrophe nicht im Tunnel von Duisburg passiert, sondern im Bochumer Schauspielhaus, ob es dann auch geheißen hätte, man habe dieses Theater nur “ideell unterstützt”? Und was, wäre die Katastrophe in einer Kirche passiert, hätte man dann auch gesagt, Kirche und Theater seien nur deshalb ins Programm gekommen, um alte Menschen zu erreichen und das Abo-Publikum?
“Wir haben den Anspruch, dass wir auch junge Menschen erreichen, nicht nur das Abo-Publikum. Deswegen haben wir die Loveparade für eine gute Ergänzung unseres Programms gehalten”,
sagte Fritz Pleitgen nach der Katastrophe. Vorher hatte er den Anspruch, den die Kulturhauptstadt erhebt, einmal anders formuliert, ein interessantes Zitat:
“Kulturhauptstädte, Weltausstellungen und Fußballweltmeisterschaften hatten bisher alle eines gemeinsam: Sie waren Leistungsschauen …”
Weiter sagte Pleitgen Ende Juni bei der Eröffnung von Theater der Welt:
„ Sie waren Leistungsschauen und inszenierten den Fortschritt als einen eigenen Erlebniswert, als den Gott-sei-bei-uns der nahen Zukunft. Der Geist der Zeit hat es uns inzwischen fraglos schwerer gemacht. Der ursprüngliche Daseinszweck dieser Events hat seine Überzeugungskraft verloren. Stattdessen stehen wir vor der Frage, wie wir mit den Mitteln der Kunst und Kultur gesellschaftliche und politische Probleme in den Griff bekommen.“
Das war vier Wochen vor der Katastrophe, vier Wochen danach ist sein Satz sehr wahr geworden schon wegen der Begründung, die anschließt:
„Politiker und Kulturschaffende klammern sich an die Hoffnung, mit Großereignissen und Ausnahmeprojekten Unerreichbares zu verwirklichen. Und es ist richtig: Sie bauen politischen Druck auf, mobilisieren Gelder, bündeln Ressourcen, krempeln Innenstädte um, lassen Bahnhöfe, Straßentunnel und Museen entstehen, bringen Konkurrenten an runde Tische für neue gemeinsame Ideen und halluzinieren den neuen Großstadtmenschen.“
Es liest sich gespenstisch vier Wochen danach, nach dem Tod im Straßentunnel, dem politischen Druck in Duisburg, den Konkurrenten an runden Tischen mit Großstadtmenschen wie Sauerland und Rabe. Jenen Leuten, die Zahlen
“um den Faktor drei oder vier”
vervielfachen oder runterrechnen solange, bis Großstädte durch Kleinstadttunnel passen. Dass alle diese kleinen Lügen von den großen Zahlen mitsprechen, ist die große Lüge des Kulturbetriebs.
Dass alle mitmachen bei dieser Art Kulturmarketing, die auf Betrug aus ist und diesen Betrug ins Werk setzt, indem sie alle zu Komplizen macht, zu Helfershelfern der Lüge, das verleidet einem diese Kultur und ihre Hauptstadt mehr als alles andere. Im Grunde ist es längst egal, wer die Lügen erfindet und wer sie verbreitet und wer sie hört, alle werden hinein gezogen in eine Kultur, die augenzwinkernd auf Reklame macht:
„Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid.“
schrieb Adorno über eine Technik der Unverschämtheit,
“mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann”.
Kulturhauptstadt bedeutet, eine richtige Frage zu stellen – nämlich wie sich “mit Mitteln der Kunst und Kultur gesellschaftliche und politische Probleme in den Griff bekommen”, also begreifen lassen – und dann der Kultur den Laufpass zu geben.
Und das nicht deshalb, weil sie eine Fitnesskettenbetriebsfeier ins Kulturprogramm genommen haben, sondern weil sie die Loveparade, als es Tote gab, aus der Kultur heraus geworfen haben wie eine peinliche Verwandtschaft, die sich beim Lügen erwischen ließ. Im Januar 2010 wurde Fritz Pleitgen gefragt, was den Mythos Ruhr ausmache:
„Ganz oben steht Solidarität. In schwierigen Verhältnissen mussten die Menschen zusammen stehen.“
Und dann, in eben dem Moment, in dem eine solidarische Kultur gefordert wäre, hat sich die Kulturhauptstadt verweigert. Als Solidarität tatsächlich ganz oben stand nach der Katastrophe, als die ganze Gegend hier beisammen stand und tief getroffen war und berührt von dem Leid, da haben alle getan, was sonst nur Schauspieler auf Bühnen tun, haben nach Worten gesucht und stammeln gelernt und sich zu eigen gemacht, was “unter dem Label” der Kulturhauptstadt passiert.
Da gab es, was RUHR.2010 erhofft hat und behauptet, eine “kulturelle Bürgerbewegung”, da haben die Menschen so auf die Bilder aus Duisburg reagiert, wie Intendanten gerne behaupten, dass sie reagierten, wenn sie ihre Inszenierungen sehen, sie haben mitgelitten, mitempfunden, miterlebt. Die Menschen standen zusammen – und die Kultur betreten beiseite.
Was auch für Kirche gilt, für kirchliche Kulturarbeit. Auch hier zuerst der Stolz, Teil der Kulturhauptstadt zu sein, und dann ein Unbeteiligtsein, ein Unberührtbleiben und eigentümliches Schweigen. Nach Notfallseelsorge und einem Trauergottesdienst bleibt eine kirchliche Kultur zurück, die stimmlos ist und stumm wie alle andere auch.
Und kein Versuch, weder bei Kirche noch Ruhr.2010, sich selber und andere zu fragen, wie sie das empfinden, das eigene hilflose Schweigen. Kein Austausch, kein Forum, keine Einladung, gemeinsam danach zu fragen, was das bedeutet für eine Kultur, die von sich glaubt, sie sei ein “Motor” oder “Mythos”, ein “Spiel-” oder “Sakralraum”.
Der aber nicht einfällt zu fragen, was sie jetzt sei, nach 21 Toten, die ihr Betrieb gekostet hat.
Es ist nicht das Marketingsprech, das die Kulturhauptstadt verrät, es ist ihr Schweigen, es ist unseres. Alle Kultur nach Duisburg samt der dringlichsten Kritik an ihr ist Müll, solange das Schweigen anhält.
In dieses Bewusstsein sei alles getaucht, was wir, als Teil dieser Kulturhauptstadt, nun selber als Programm anbieten. Auch dies keine Antworten, Versuche allenfalls, ziemlich einsame, ehrlich gesagt.
Aber es ist nun mal so, wie seit Adorno bezeichnet, dass, wer für die Weiterführung dieser schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, zu ihrem Helfershelfer wird, während, wer dieser Kultur sich verweigert, die Leere beschwört, die in ihr wohnt und wir in ihr.