Kirchenmusik

Atmen, was einem den Atem verschlagen könnte

Matthäus-Passion von J.S. Bach | Karfreitag

(c) Theo Oberheitmann

“Es gibt keine politisch unschuldige Musik.”

Friedrich-Wilhelm Marquardt, mein Lehrer, schrieb diesen Satz, als er über Bachs Passionen schrieb. Musik, die dem Verdacht, judenfeindlich zu sein, wenig entgegnen kann.

Ob Bach es so gemeint hat oder anders, ist dabei ziemlich egal und fast egal, ob jener Text, den Bach vertont, so oder anders gemeint sein könnte.

Nicht egal ist, ob dass, was geschrieben wurde und vertont, Wirkung entfaltet hat. Sie ist in der Welt, der Pogrom gehörte zur Passion wie das Gewitter zu der Wolke.

Unschuldig ist heute keine Passion mehr zu spielen. Gerade deshalb, schrieb Marquardt, komme es  –  bei Bachs Musik genau wie beim biblischen Wort  –  aufs Mündliche an, auf die Artikulation. Was gesungen werde und gesprochen, gewinne seine Bedeutung darin, wie es gesungen werde und gesprochen. Marquardt:

    Durch Nikolaus Harnoncourt sind wir neu auf das Phänomen der »Klangrede« gestoßen worden, die gerade in der Bachzeit und auch noch danach wie selbstverständlich eine uns längst verloren gegangene musikalische Aufführungspraxis bestimmte.

Nicht der Gebrauch alter Instrumente ist an der heute so genannten »historischen Aufführungspraxis« das Entscheidende, sondern ein anderes Verhältnis zu Tönen und zur musikalischen Artikulation. Nicht das Ideal der Gleichmäßigkeit und Ausgeglichenheit des einzelnen Tons oder einer Tonfolge oder des Tempos eines Satzes soll dabei gelten, sondern ein vom Atmenkönnen abhängiges Anschwellen und vor allem Abschwellen des Tones, ein Heben und Senken der Singstimme, aber auch der Instrumentalstimme, die ja auch unser Sprechen charakterisieren.

    Gute Musik sollte sich am wenigsten nach den Zwangskäfigen der Taktstriche (und schon gar nicht nach der Maschine des Metronoms) richten, sondern nach unseren Atemzügen und Herzschlägen. Weg mit den Regeln unserer Notenschriften, des Schriftlichen  –  auf in die Freiheit des Mündlichen!

    In der Theologie haben wir in letzter Zeit etwas Ähnliches gelernt. Nicht die Heilige Schrift allein ist das Entscheidende, sondern das Mündliche, aus dem sie kommt und zu dem sie führt.

Martin Buber, der jüdische Gelehrte, nannte das Wort Gottes »das Wort, das gesprochen wird«, nicht: die Heilige Schrift, die gelesen wird […] Luther hatte mehrmals gesagt, es sei nicht richtig, dass das Evangelium zur Schrift gemacht worden sei, denn es sei ein »mundlich G‘schrei«, »gute neue Mär« zum »Singen und Sagen«, aber nicht zum Lesen.

    Da geht in Musik und Theologie etwas Gleiches vor: Traut euch zu atmen …

Und die Wirkung von dem, was gehört wird und gesungen, mit zu hören und mit zu singen. Atmen, was einem den Atem verschlagen könnte.

Unschuldig wird keine Passion zu hören sein, unschuldig war, wer ermordet worden ist, ein Jude.


Zum Foto von Theo Oberheitmann

„Überall auf den Friedhöfen der Bretagne und Normandie entdecke ich Kruzifixe in den unterschiedlichsten Stadien des Zerfalls, liebevoll auf dem Grab platziert und dekoriert.“ Theo Oberheitmann, der von sich selber sagt, er habe mit Religion nicht viel zu tun, hat den Blick fürs Kreuz. Seine Bilder setzen die Ikonographie der Leiden Jesu fort, entsetzlich schön und anstößig wie Blasphemie:

Ein fehlender Kopf wird durch Blumen ersetzt. Wenn die Schrauben für die Befestigung durchgerostet sind, wird der Corpus mit Draht befestigt. Mich interessiert das Einswerden mit dem Untergrund, der stetige Verfall durch Korrosion, das Überwuchern mit Pflanzen bis zur fast totalen Auflösung von Kreuz und Corpus.

Mich habt ihr nicht allezeit bei euch, heißt es bei Matthäus und in der Matthäus-Passion.