9/11 – Salman Rushdie

Seit 1989 hätte er ermordet sein sollen: Rushdies Reaktion auf 9/11

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2977 Menschen sind am 11. September ermordet worden. Sie waren links oder rechts, religiös oder nicht, kulturell so oder anders geprägt, sie waren vielfältig, mannigfaltig, widersprüchlich. Wie die Stadt, in der sie lebten.

“Wir sind alle Amerikaner”, hat Le Monde am Tag danach getitelt, Nous sommes tous americains. Vielfältig, mannigfaltig, widersprüchlich.

Der Kunst sei dies immer klar gewesen, erinnert sich Salman Rushdie in Joseph Anton an die Tage nach 9/11: Für die Kunst sei jeder “vielfach, mannigfaltig, gebrochen und widersprüchlich”. Eindeutigkeit ist keine Kunst.

Rushdie hat den 11. September in New York erlebt. Seit 1989  –  der iranische Staat hatte aller Welt erklärt, Rushdie ermorden zu wollen  –  hatte er als “Joseph Anton” in England undercover leben müssen. New York war die Stadt, die ihn zurück gebracht hat ins Leben. Die Stadt, die im Herbst 2001, als wir alle Amerikaner waren, “nicht mehr sie selbst” war.

Hier die großartige Passage aus Joseph Anton, die sich unmittelbar auf 9/11 bezieht:

>>  In einem Roman war es klar, dass das menschliche Ich heterogen und nicht homogen war, nicht einfach, sondern vielfach, mannigfaltig, gebrochen und widersprüchlich. Der Mensch, der man für seine Eltern war, entsprach nicht dem, der man für seine Kinder war, das arbeitende Ich war ein anderes als das liebende, und abhängig von Tageszeiten und Stimmungen konnte man sich groß oder dünn, unwohl oder sportlich oder konservativ oder ängstlich oder begehrenswert finden. Sämtlichen Schriftstellern und Lesern war klar, dass die Identität des Menschen nicht schmalspurig, sondern breit gefächert war und dass diese Bandbreite der menschlichen Natur dem Leser erlaubte, Gemeinsamkeiten und Identifikationsmöglichkeiten mit Madame Bovary, Leopold Bloom, Oberst Aureliano Buendía, Raskolnikow, Gandalf dem Grauen, Oskar Matzerath, den Makioka-Schwestern, dem Continental-Op, Lord Emsworth, Miss Marple, dem Baron auf den Bäumen und dem Roboterboten Salo vom Planeten Tralfamadore in Kurt Vonneguts Die Sirenen des Titan zu finden.

Leser und Autoren konnten dieses Wissen um die umfassende Identität in die Welt jenseits der Buchseiten mitnehmen und es nutzen, um sich in ihren Mitmenschen wiederzufinden. Man konnte für unterschiedliche Fußballmannschaften sein, aber dieselbe Partei wählen. Man konnte unterschiedliche Parteien wählen, aber bei der Kindererziehung einer Meinung sein. Man konnte unterschiedliche Auffassungen bei der Erziehung haben, aber die Angst vor der Dunkelheit teilen. Man konnte verschiedene Ängste haben, aber die gleiche Musik lieben. Man konnte den Musikgeschmack des anderen grauenhaft finden, aber an denselben Gott glauben. Man konnte in Glaubensdingen sehr konträrer Meinung sein, aber dieselbe Fußballmannschaft gut finden.

Die Literatur wusste das, hatte es immer gewusst. Sie versuchte, das Universum zu öffnen, die Gesamtheit dessen, was der Mensch wahrzunehmen, zu begreifen und somit zu sein vermochte, zumindest ansatzweise zu vergrößern. Große Literatur ging an den Rand des Bekannten und drängte gegen die Grenzen von Sprache, Form und Möglichkeiten, um die Welt größer und weiter erscheinen zu lassen.

Doch das jetzige Zeitalter drängte die Menschen zu immer engstirnigeren Definitionen ihrer selbst … <<

Wir sind alle Amerikaner, ist das so? Vielfältig, mannigfaltig, widersprüchlich? Am 11. September läuten die Glocken der Christuskirche, sie läuten einmal im Jahr.