Chorwerk Ruhr

Einfühlung ins Menschenrecht

ChorWerk Ruhr singt Heinrich Schütz

Bleikugeln (7-19 mm) vom Lützener Schlachtfeld | Foto Andrea Hörentrupp, Landesanstalt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt (c)

Als er 33 war, brach der Krieg aus, und als der Krieg zu Ende war, war Heinrich Schütz 63. Schwer vorstellbar, was es bedeutet, 30 Jahre lang im Krieg zu leben, nahe bei oder mittendrin.

Ringsum starben sie auf viehische Weise  –  Bleikugeln wie oben im Bild ließen lange leiden  –  Schütz selber lebte in Dresden, die Stadt war bewehrt, sie blieb verschont. Der Hunger kam, die Seuchen, die Pest. Seine Familie starb ihm weg, seine Frau, seine Brüder, seine Tochter, seine Mutter …

Welcher Tod ist natürlich, welcher unnatürlich, Schütz wusste, was menschlich ist, er hat getrauert: 140 Jahre, bevor die Menschenrechte deklariert wurden, hat er sie vertont.

Was Schütz’ Exequien  –  hier mehr über das Werk  –  mit den Menschenrechten zu tun haben? Kleiner Exkurs: Aus welchen Traditionen welcher Jahrhunderte sich die Menschenrechte speisen, ist viel diskutiert, die geläufige Antwort lautet, sie seien in dem Jahrhundert entstanden, in dem sie deklariert worden sind.

Daran hält auch die amerikanische Kulturhistorikern Lynn Hunt fest  –  mit einer interessanten Begründung: Die Menschenrechte seien weniger im Rechtswesen entstanden als in der Gefühlswelt des 18. Jahrhunderts.

Entscheidend sei die Entwicklung von Empathie gewesen, der Fähigkeit, sich in das Leiden anderer einzufühlen und solches Fühlen zu generalisieren. Dass Menschenrechte evident geworden seien  –  “We hold these truths to be self-evident”, so die Präambel 1776  –  verdankten sie “einer neuen Gefühlsordnung, deren Herzstück das Mitleiden mit anderen (imagined empathy) wurde”, so fasst Stefan-Ludwig Hoffmann die These von Hunt zusammen. Exemplarisch dafür sei die Abschaffung der Folter, Hunt erkenne darin eine “emotionale Grundierung des Rechtediskurses […]: Das Publikum sah nur noch den Schmerz und das Leid von Individuen.” *

Löst man Hunts These aus ihrer Fixierung auf das 18. Jahrhundert, bleibt sie, finde ich, ähnlich plausibel. 30 Jahre Krieg, nur ein Jahrhundert zuvor, schlagen sich tief ins Alltagsbewusstsein ein, sie bilden ja keine Serie von Schlachten, sondern eine Wahrnehmung aus. Ständige Angst vor Truppen, die plündern, vor Freischärlern, die morden, vorm Stärkeren, der Recht hat. Ein Krieg, den alle gegen alle führen, so Thomas Hobbes am Ende des englischen Bürgerkriegs, der zeitgleich tobte. 1625 erschien Hugo Grotius’ De jure belli ac pacis, in dem es um das Recht der Einzelnen, nicht nur der Völker geht, 1635/36 schreibt Schütz seine Exequien.

Trauer über den Einzelnen, wenn Menschen ringsum wie Fliegen sterben. In manchen Teilen des Landes waren am Ende der drei Kriegsjahrzehnte 70 Prozent der Bevölkerung hinweg gerafft, Schätzungen gehen von reichsweit bis zu 40 Prozent aus, jeder Dritte …

“Feuer, Pest, und Tod, der Herz und Geist durchfähret “,

heißt es in Andreas Gryphius‘ “Tränen des Vaterlandes”, das er im selben Jahr schrieb wie Schütz seine Exequien:

“… was ärger als der Tod / Was grimmer denn die Pest und Glut und Hungersnot / Daß auch der Seelen Schatz so vielen abgezwungen.”

Und doch auch umgekehrt: So alltagstüchtig die Verrohung sein mag, Gryphius und Schütz zwingen ihr ihren Willen ab, den Willen zur Kunst. Sie zwingen dem Krieg, der als Naturzustand erscheint, den Glauben ab, dass Schönheit keine Natur beenden, aber einen Menschen ändern kann. Keine Menschenrechte ohne diesen Trotz und Trost. **


>> Chorwerk Ruhr | 23. März, 17 Uhr

ANMERKUNGEN

*  So die Zusammenfassung von Stefan-Ludwig Hoffmann in Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert. Hunts Werk Inventing Human Rights ist 2007 in New York erschienen.

** Das erklärt natürlich nicht, warum es noch so viele Jahrzehnte gedauert hat, bis die Menschenrechte formuliert wurden. “Mit Notwendigkeit” hat sich aus dieser Vorgeschichte nichts ergeben, sie passt aber, denke ich, zu dem Vorschlag von Hans Joas, “den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen  –  eines Prozesses, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert wurde”.

ZUM FOTO

Die Schlacht bei Lützen 1632, gut 100 Kilometer von Dresden entfernt, war die Schlacht, in der Gustav Adolf fiel und die Pappenheimer sprichwörtlich wurden. Das Landesamt für Denkmalpflege und Ärchologie Sachsen-Anhalt betreibt die Schlachtfeld-Archäologie Lützen  –  eine Detailforschung, die eine Ahnung gibt davon, wie das Abschlachten vonstatten ging. Wir danken für das Foto.