Pop zum Sonntag. Thema: Lost
Oliver Schulthoff über Lost Places und urbEXPO
Neue Reihe in lockerer Folge: Oliver Schulthoff ist resident-dj der Christuskirche, der Hermeneut einer unentwirrten Gegenwart, er erklärt sie popkulturell plausibel. Also völlig unentwirrend, dafür geschmacksverstärkend. Thema der ersten Folge: Lost. Mit Einsichtsauslösern von – man muss, sie sind unten verlinkt, die Songs beim Lesen hören – Janet Jackson und June und Truck Stop und Marc Almond und den Dexy’s Midnight Runners:
Oliver Schulthoff | Geschmacksverstaerkerei
Verloren / urbEXPO / LOST PLACES
Neulich habe ich (Verwechslungen mit dem Autor sind rein zufällig und haben inhaltlich nichts mit dem Text zu tun) beim Verlieren etwas gewonnen. Ich bin ein Mann, und Männer verlieren, je nachdem welche Frau man fragt, wahlweise ab dem 18. oder 21. Lebensjahr etwas, das unwiederbringlich weg ist. Manche wissen gar nicht, was sie verlieren könnten, wenn sie wollten.
Ich jedenfalls habe etwas gewonnen, eine Erkenntnis. Es ist nämlich so, dass es sein könnte, dass alle Materie in diesem Universum schon längst existiert und sich nur ihre Gestalt jeweils wandelt. Der Apfel oder die Schokostreusel, die ich esse, sind von ihrer subatomaren Zusammensetzung vielleicht etwas verändert, aber sie sind noch da. Ich auch.
Als ich das erkannte und dann den Zusammenhang mit Geld verstand – andere haben diese Einsicht nach dem Verlust durch Kaufen oder Überfall, durch Privatfernsehen oder einen Saufgang gewonnen – habe ich es leicht genommen und konnte von da an gut mit Verlusten umgehen. Mein Verlust also war der, dass ich mit nun 50 Jahren nicht mehr jugendlich bin.
Die Jugend wurde ja erst bis in die 30er hineingezogen, und bei besonders schweren Fällen dauert dieses Sein noch in die 40er hinein. Die bloße Weigerung, erwachsen zu werden, hat das gewirkt, und auf diese Weise des geistigen Luftanhaltens war ich in einem Zwischenzustand der Materieumformung gefangen; der Bauch wusste nicht, was er da sollte, der Kopf summte immer noch die Lieder der Kindheit, und wenn man mich sah, dachte man darüber nach, was dies wohl für eine ausbaufähige Ruine werden könnte (just fishing for compliments).
Dann wurde ich 50 und habe als DJ Platten aufgelegt. Das macht man immer noch so. Eigentlich wie 1971 oder 1967. Der Dancefloor war leer. Die Gaststätte ebenso.
Das Geld wurde woanders ausgegeben und umgewandelt. 200 Meter die Straße hoch tobte die Menschenmenge und hörte nunja: Musik, sie war anders als die, die ich auflegte.
An dem Abend ein Set von viereinhalb Stunden. Ich war verloren. An die Musik, an die Einsamkeit des Plattenauflegers bei der Auswahl der nächsten Platte. Und dann mit einem Mal nahm ich es leicht. Was kann es Schöneres geben, als ganz allein durch sein Haus aus Musik zu gehen, sie laut zu hören und sich verzaubern zu lassen?
Das zu können, ist ein Perspektivwechsel hilfreich, den man mit fortschreitendem Alter und dem voran gehenden Dauerverlust an Lebensmaterie und Restlaufzeit hinbekommt. Wenn aber, lassen sich all die verlorenen Plätze unserer Jugend anders betrachten, manchmal ästhetisierend, manchmal traurig, manchmal mit einem kennerhaften Lächeln und wenn man will, sieht man den Zauber und nicht den Geist.
>> Janet Jackson | Got `Til It’s Gone
>> June | Lost Area (DJ Sprinkles’ Empty Dancefloor Mix)
>> Truck Stop / Markus K-LOST-aler | Take It Easy Altes Haus
>> Marc Almond | The House Is Haunted
>> Dexy’s Midnight Runners | Lost