“Vergessen, schlafen, sterben”
Hat jeder Mensch das Recht, sich zwischen Tod und Leben zu entscheiden?
“Letztendlich ist dieses Buch inspiriert durch meine Sendung, weil ich immer wieder Gäste hatte, die genau diesen Wunsch, sich selber zu töten, geäußert haben.”
So Jürgen Domian in einem Interview mit dem DLF; weiter:
Oftmals stecken Probleme seelischer Art dahinter, eine Depression, irgendwelche anderen Dinge, aber es gibt eben auch den Punkt, und an dem stand ich einige Male während der Sendung, in der Live-Situation, wo ich merkte, diese Person hat das alles wirklich klar durchdacht, und ich kam mir dann beinahe übergriffig vor, diese Person noch weiter vom Leben überzeugen zu wollen und habe dann gesagt, ja, wenn du das so siehst und du mit dir im Reinen bist, dann ist das dein Weg.“
Hat Domian recht? Hat jeder Mensch das Recht, sich zwischen Tod und Leben zu entscheiden?
Tatsache ist: Jeder und jede hat die Wahl. Worauf Domian pocht: aufs Wahlrecht. Und darauf, dass man eine Wahl, die man hat, bewusst treffen sollte.
Dazu muss man sie sich bewusst machen, Domian will den Suizid befreien: von der „christlichen Stigmatisierung“ einerseits und der gängigen Pathologisierung andererseits:
„Nicht jeder Suizidant ist seelisch krank und bedarf einer Behandlung.“
Und das eben ist Ausgangspunkt der Geschichte, die Domian in „Dämonen“ erzählt:
“Warum will sich Hansen töten? Er ist körperlich und geistig gesund, er befindet sich in keiner Lebenskrise, er hat Erfolg in seinem Beruf, es geht ihm materiell gut, er hat Freunde und viele Bekannte und könnte sein Leben interessant und abwechslungsreich gestalten. Aber er findet das Leben nicht mehr interessant und abwechslungsreich, er ist des Lebens überdrüssig, ja satt, es ist doch immer dasselbe, tagaus, tagein … “
Domian dreht die Frage um, er sucht nicht nach Gründen für den Suizid, er sucht nach Gründen fürs Weiterleben, und das heißt, er entmoralisiert den Suizid.
Was gut ist: Kein moralisches Urteil reicht heran an die existenzielle Dimension, die eine suizidale Absicht gewinnt. Sie stellt vor die Frage Warum leben?, und das ist keine didaktische Frage und keine therapeutische, sondern die existenzielle Frage schlechthin: Wie finde ich meinen Bestimmungsgrund, wie bestimme ich mich selber?
Selbsttötung ist existenzielle Selbstbestimmung, sie lässt sich nicht verurteilen und nicht verwerfen, sie lässt sich weder rechtlich noch moralisch verbieten.
Sie lässt sich aber auch nicht freistellen, nicht erlauben, nicht erdulden. Das eine folgt nicht aus dem anderen, warum nicht? Weil wir die Würde eines jeden Menschen für unverletzlich halten; anders gesagt, weil wir davon ausgehen, dass menschliches Leben, weil es lebt, lebenswert ist, es begründet sich in sich selbst.
Auf der einen Seite also: die Selbstbestimmung menschlichen Lebens, auf der anderen seine aus sich selber begründete Würde. Der Respekt vor beidem ist gesellschaftlich getragen, der Konsens umgreift heute alle möglichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, er stellt einen Gesellschaftsvertrag dar.
Einen, der sich auch auflösen könnte, man schaue sich um, es gibt Gesellschaften, in denen das Selbstbestimmungsrecht nicht für die Einzelnen gilt, sondern nur fürs Kollektiv; es gibt Gesellschaften, in denen die Liebe nicht dem Leben gilt, sondern dem Tod:
„Es geht nicht nur um die Frage der Selbstbestimmung, sondern auch und sehr wesentlich um einen gesellschaftlichen Grundkonsens im Blick auf das Verständnis menschlichen Lebens“.
So die Evangelische Kirche, eben so lässt sich auch Domians „Dämonen“ lesen: Seine Geschichte von Hansen, der allein im lappländischen Schnee „vergessen, schlafen und sterben“ will, nimmt den Weg einer griechischen Tragödie: Hansen bleibt eben nicht allein mit sich und seinem selbstbestimmten Entschluss …
Und damit beginnt das Nachdenken am Ende von vorn: Domian pocht auf das Recht zu wählen; das Leben aber lässt sich nur wählen, wenn es eine Alternative gibt, die sich wählen lässt: den Tod zu wählen unterläuft einen gesellschaftlichen Grundkonsens; dieser Grundkonsens ist gleichzeitig verantwortlich dafür, dass es das Recht zu wählen gibt … Der Kreis ist geschlossen.
Ein mythisches Verhängnis? Nein – und da hilft es, sich abzulösen von der griechischen Tragödie, die das Verhängnis zum Erzählprinzip gemacht hat [nebenbei bemerkt liegt hier, in diesem Es-musste-ja-so-kommen, ein Webfehler auch in Domians Erzählung]:
Das Recht, sich selber zu bestimmen im Leben und im Sterben, ist eben nicht gegeben, es ist geworden. Wir haben es nicht empfangen, sondern erkämpft, wir verdanken es nicht uns selber, sondern – wem? die Kirchen sagen: Gott, aber da geht mir der Zugriff zu schnell – empfangen haben wir das Recht, uns selber zu bestimmen, von denen, die vor uns gewesen sind:
„Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden.“
Schrieb Walter Benjamin. Der Poet unter den Linken, er hat jüdisches und linkes Denken, biblisches und historisch-materialistisches da kurz geschlossen, wo sie am stärksten sind: im Bewusstsein ihres Gewordenseins.
Benjamin war jederzeit bewusst, dass er sich und was er denkt, nicht sich selber verdankt, sondern den Namenslosen, über die der Fortschritt hinweg geeilt ist. Die hinab mussten, um die Straße der Freiheit und der Wahlfreiheit zu unterbauen. Dass es uns heute gibt, bedeutet nichts anderes als dass es uns gibt. Dass wir erwartet worden sein könnten, bedeutet alles:
„Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.“
Benjamin hat sich, von den Nazis an die Grenze gejagt, sein Leben selber genommen.
HILFE BEI SUIZID-GEDANKEN
Falls Sie selber daran denken, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Das geht auch — und oft besser — anonym. Es geht telefonisch, im Chat, per Mail. Dafür ist die
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