Tag der Befreiung

György Konrád z”l

Ein großer Schriftsteller, ein großer Europäer, sein eigener Kopf

György Konrád 2013 am Tag der Befreiung in der Christuskirche | Foto Sabine Hahnefeld

Ein großer Schriftsteller, ein großer Europäer: György Konrád, 1933 in Berettyóújfalu im östlichen Ungarn geboren, ist jetzt in Budapest gestorben. Vor sechs Jahren hatte er bei uns zum Tag der Befreiung von Auschwitz aus seinen Werken gelesen: Auschwitz, sagte er damals, sei “wichtigster Orientierungspunkt meines Denkens”.

Konrád war Präsident des Internationalen P.E.N. und Präsident der Akademie der Künste, er hat international höchste Ehrungen erhalten, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Karlspreis, den Orden der französischen Ehrenlegion. Im März 1944, als die Deutschen Ungarn besetzten und innerhalb weniger Wochen eine halbe Million Juden deportierten  –  jedes dritte in Auschwitz ermordete Opfer stammte aus Ungarn  –  war der 11jährige zusammen mit seiner Schwester in Budapest untergetaucht.

Die beiden Kinder wurden nicht wie Tausende andere „in die Donau geschossen“. Dass sie überlebt haben, verdanken sie dem Zufall, ihrem Mut und Menschen wie Carl Lutz: Der Schweizer Diplomat hatte Zehntausende „Schutzpässe“ ausgestellt, eine dieser gestempelten Phantasien schützt Konrád bis heute davor, vergast worden zu sein.

Aber auch, wer Auschwitz entkam, ist deshalb nicht entkommen. Was es bedeutet zu überleben  —  und auch, was es bedeutet, wenn sich ein anderer etwas ausdenkt und auf Papier druckt und „Schutzpass“ nennt, wie Carl Lutz es getan hat  —  diese elementare Erfahrung machte Konrád einem eher beiläufig deutlich:

„Du lebst statt der anderen, das sagte mir in meiner Kleinstadt ein Jude, dessen Frau und zwei Kinder verbrannt worden waren. Im Februar 1945 sagte er das, kurz vor meinem zwölften Geburtstag. Diese Feststellung klang wie ein Urteil.“

Nach der Befreiung hat Konrád Literatur-, Soziologie- und Psychologie in Budapest studiert, 1956 geriet er in den Ungarn-Aufstand, ohne dort seine, eine dritte Seite zu finden. Durch die bleiernen Jahre, die den sowjetischen Panzern folgten, hat er sich  —  jetzt nicht mehr von falscher „Rasse“, sehr wohl aber von „falscher“ Klasse  —  mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen und 1969 seinen ersten Roman herausgebracht: „Der Besucher“.

Die politischen Essays, die er in den folgenden Jahren auch in westlichen Verlagen veröffentlichte, brachten ihm in Ungarn ein jahrelanges Schreibverbot ein. Da er weiterhin im Westen publizierte, bot man ihm schließlich die Ausreise an, er aber, Weltbürger und Europäer, blieb und schuf sich sein öffentliches Leben selbst.

Eines, das er zwischen die Welten Europas spannte, zwischen Selbstverlag und Fremdbestimmung, zwischen Samisdat und westlichem Ruhm: Damals, so lange ist das nicht her, musste ein Manuskript, in dem wer Ich sagte, in Europa geschmuggelt werden.

Auf diese Weise erkämpfte sich Konrád seine gedankliche und eine gewisse Reisefreiheit und wurde  —  zusammen zumal mit Vaclav Havel, Czeslaw Milosz, Danilo Kis  —  zu einer der wichtigsten Stimmen des dissidenten Osteuropas.

1989 dann, nach dem Ende der europäischen Spaltung, wird er in Ungarn rehabilitiert, er erhält den wichtigsten Künstlerpreis des Landes. Und wird  —  als Präsident des Internationalen P.E.N. [1990 bis 1993], mehr noch als Präsident der Akademie der Künste in Berlin [1997 bis 2003]  —  zu einer der bedeutendsten Stimmen des neuen Europas: „eine literarische Autorität von europäischem Rang“, wie Alt-Bundespräsident Roman Herzog 2001 es in seiner Laudatio zur Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen formuliert: Konrád zu ehren, so Herzog,

ist eine Entscheidung für ein Europa der Zivilcourage, für ein Europa der unbedingten Wahrheit, des unbeugsamen Freiheitswillens, des kompromisslosen Humanismus und des Bekenntnisses zum Frieden. Es ist zugleich eine Entscheidung für kritische Intelligenz, für Nonkonformismus und Widerspruchsgeist.

Am 27. Januar 2013, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, hat György Konrad in der Christuskirche aus seinen Büchern, nein: aus seinem Leben gelesen. Wenn es drei Worte gibt für seinen dissidenten Geist, dann diese: warmherzig, sanft, liebevoll.

Ein „emphatisches Vorstellungsvermögen“, das er sich erworben hat, sich hat erwerben müssen, es ist der Inbegriff von Literatur selbst: die Fähigkeit, sich vorzustellen, was mit dem anderen ist.