Warum wird Friedrich Jahn verehrt?

Der "Turnvater" hat Juden verachtet, Franzosen gehasst, Bücher verbrannt (Teil I)

Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852), seit 1883 als Denkmal im Stadtpark Bochum | thw

Für Nazis haben die Festspieljahre des Erinnerns begonnen: Was 1933 geschah, jährt sich zum 88. Mal, die 8 steht ihnen für den achten Buchstaben, die Doppelacht für „Heil H“. Zehn Jahre noch bis Stalingrad, am 10. Mai, heute, werden erst mal Bücher verbrannt: Es gibt Bücher genug, die von Henkershand samt ihren Verfassern verbrannt zu werden verdienen“, hatte schon Friedrich Ludwig Jahn erklärt, der „Turnvater“. Überall im Land sind ihm, dem Bücher schreibenden Buchverbrenner, Denkmäler gesetzt. Lassen sie sich stürzen, indem man sie stehen lässt? Teil (I) der Frage. 

Kolumbus geköpft, Jefferson gestürzt, Churchill eingehaust. So war es im letzten Sommer, in Bristol wurde die Statue eines Sklavenhändlers, Edward Colston, im Hafen versenkt, in Gent die Statue von Leopold II  –  der belgische König war einer der brutalsten Kolonialisten aller Zeiten  –  erstickt.

Dann die Bücher: Kant, Hegel, Hume. Jim Knopf, Pippi und Foucault, was ist rassistisch und was nicht, die Debatten darüber helfen, Bücher mit den Augen anderer zu lesen. Weniger hilfreich, würden sie öffentlich verbrannt wie Colstons Statue ertränkt. Bücher verbrennen gilt als reaktionär, Statuen demolieren als progressiv, es hat mit der Erfindung des Buchdrucks zu tun: Seit es Massenauflagen gibt, ist das Buchverbrennen billig geworden, ein rein symbolischer Akt.

Als der Papst 1520 verfügte, sämtliche Schriften von Martin Luther zu verbrennen, verbrannte Luther das Urteil, das der Papst verhängt hatte. Rom zog in die Materialschlacht, Luther in die Symbolpolitik. Den Rahmen dafür bot ihm eine studentisch organisierte Aktion morgens um 9 Uhr in Wittenberg. Deren Botschaft  –  Ketzer ist der Papst  –  konnte lesen, auch wer nicht lesen konnte.

Vordenker des “Völklichen”

Drei Jahrhunderte später, im Oktober 1817, stellt Friedrich Ludwig Jahn diese Szene nach, er inszeniert sich als neuen Luther. Jahn?

Elf Jahre vor der französischen Revolution geboren, beseelt von der Idee, dass sich eine deutsche Nation bilde und besessen davon, dass daraus „Deutsches Volksthum“ werde  –  so der Titel seiner ersten Schrift, 1810 erschienen, darin auch der anfangs zitierte Satz, es gebe genügend Bücher, „die von Henkershand samt ihren Verfassern verbrannt zu werden verdienen“.

Kein Denker, dieser Jahn, eben darum ein Vordenker des Völkischen (er nennt es das “Völkliche“) und darum auch der Ur-Burschenschaft, jener studentischen Autonomie-Bewegung, die Anfang des 19. Jahrhunderts das betreibt, was man heute Identitätspolitik nennen würde: Man kämpft für Freiheit und Gleichheit aller, falls sie jenem Kollektiv zuzählen, das man sich selber gerade erfindet. Juden zählen nicht dazu.

Diese „Deutschheit“  –  so Jahns Pendant zur Menschheit  –  stellt er sich formbar vor wie Muskelmasse. 1811 gründet er den ersten aller Turnvereine, eine „Turnbewegung“ erfasst das Land, von Beginn an formt er sie als Wehrertüchtigung, sie soll gegen Napoleon reiten: nation building als bodybuilding. Und als seien es Muskelaufbaupräparate, flößt er ihr alle möglichen Aversionen ein gegen das, was von der französischen Revolution überhaupt noch geblieben war  –  alles „undeutsch“.

Anders das Wort „turn“, es sei, so Jahn, „ein Deutscher Urlaut“.

Friedrich L. Jahn: Lithographie von Georg Ludwig Engelbach ca 1852

So sind es denn auch „Ur-Burschen“ aus dem jahnschen Umfeld, die 1817  –  drei Jahrhunderte nach Luthers Thesenanschlag in Wittenberg  –  auf die Wartburg nach Eisenach rufen, hier hatte Luther einen Teil der Bibel ins Deutsche übersetzt. An die 500 Studenten kommen zusammen, trinken, texten und turnen, und als es dunkelt, ziehen sie einen Hügel weiter auf den Wartenberg. Dort wird am selben Abend der Sieg über Napoleon gefeiert, die „Befreiung“ liegt vier Jahre zurück, und hier nun  –  so hat es Heinrich v. Treitschke später geschildert,

„ward zum ersten Male offenkundig, daß sich bereits eine kleine extreme Partei innerhalb der Burschenschaft gebildet hatte: jene fanatischen Urteutonen aus Jahns Schule, die man die Altdeutschen nannte. Diese köstliche Gelegenheit für eine fratzenhafte Eulenspiegelei konnte sich der Turnmeister doch nicht entgehen lassen. Er regte zuerst den Gedanken an, dies Lutherfest durch eine Nachäffung der kühnsten Tat des Reformators zu krönen und, wie einst Luther die Bannbulle des Papstes verbrannt hatte, so jetzt die Schriften der Feinde der guten Sache ins Feuer zu werfen.“

Treitschke zufolge hat Jahn die Liste der Bücher erstellt, die zu verbrennen seien, es dann aber vermieden, an der Aktion selber teilzunehmen. Also tritt einer seiner Getreuen

„plötzlich hervor und forderte in einer schwülstigen Rede die Brüder auf, zu schauen, wie nach Luthers Vorbilde in zehrendem Fegefeuer Gericht gehalten werde über die Schandschriften des Vaterlandes. Jetzt sei die heilige Stunde gekommen, »daß alle deutsche Welt schaue, was wir wollen; daß sie wisse, wes sie dereinst sich von uns zu versehen habe«. Darauf trugen seine Gesellen einige Ballen alten Druckpapieres herbei, die mit den Titeln der verfemten Bücher beschrieben waren. Auf eine Mistgabel aufgespießt flogen dann die Werke der Vaterlandsverräter unter tobendem Gejohle in das höllische Feuer (…)“

Treitschke war ja nun selber ein steifköpfiger Nationalist, Jahns Szenario aber nannte er

„eine unbeschreiblich abgeschmackte Posse, an sich nicht ärger als viele ähnliche Ausbrüche akademischer Rohheit, bedenklich nur durch den maßlosen Hochmut und die jakobinische Unduldsamkeit, die sich in den Schimpfreden der jungen Leute ankündigten.“

“Nicht Juden, der Judenschaft erklären wir den Krieg”

Unter den Büchern, die von Schimpfreden, den sog. „Feuersprüchen“ begleitet in die Flammen fliegen, ist eines von Saul Ascher mit dem genialen Titel „Germanomanie“, dazu von der Jahn-Fraktion dieser „Feuerspruch“ :

 „Wehe den Juden, so da festhalten an ihrem Judentum und wollen über unser Volkstum und Deutschtum spotten und schmähen.“

Eigenartige Drohung. Jakob Fries, Professor der Philosophie, einer der Redner auf dem Wartenberg, erklärt, was gemeint sei:

„Nicht den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg.“

Hier Juden, dort Judenschaft, hier die Brüder, dort der Feind  –  diese feine Unterscheidung muss man, weil lange eingeübt, kurz erklären: Seitdem sie einen Gott verehren, den niemand sehen kann, stehen Juden für etwas, das andere nicht griffig bekommen.

Als stehe hinter jedem Einzelnen eine Macht, die sich in ihm verkörpere, aber insgeheim wirke, unsichtbar eben. Ein Vorstellungsraum, der sich wie eine Bühne öffnet: Der unsichtbare Gott konnte  –  Beispiel: Martin Luther  –  mal zum „Vater Jesu Christi“, mal zum „Rachegott“ werden und darum die Juden mal zu „Brüdern des Herrn“, mal zu „Feinden der Gnade Gottes“.

Diese Denkfigur  –  Juden als Repräsentanten von etwas, das man nicht sieht  –  hat die Aufklärung übernommen, hat sie religiös entkernt und scheinbar rational aufgefüllt:

Eigentlich, erklärt Immanuel Kant, sei das Judentum keine Religion, sondern „eine politische Verfassung“, bewirke allerdings keine „moralische Gesinnung“, sondern statuiere „Zwangsgesetze“. Daher sei das Judentum, so Johann Gottlieb Fichte, wie ein „Staat im Staate“, man sei von ihm besetzt wie von Napoleons Franzosen, die man denn auch  –  so etwa Ernst Moritz Arndt  –  als „Judenvolk“ bezeichnet. Wobei sich das jüdische Volk seit 70 n.C.  –  Römer metzeln den ersten jüdischen Aufstand nieder, Juden fliehen in alle Welt  –  nicht mehr „höher entwickelt“ habe, wie selbst der freundliche Herr Herder meint, es sei nur noch „eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen“.

Solche und andere Vorstellungen schwirren frei umher, die klassische deutsche Philosophie  –  „eine Art von fortschreitender Verweltlichung“ der lutherischen Theologie, wie Leon Poliakov  in seiner Geschichte des Antisemitismus schreibt  –  pegelt den Juden gegenüber wie schon Luther zwischen Respekt und Verachtung, zwischen Einfühlung und Furcht. An alle diese Empfindungen kann Jahn anknüpfen, bei ihm klingt es schon wie später einmal bei Heidegger:

 „Nur Urvölker können in heiliger Weltgenossame nachbarn: Mangvölker und Mangsprachen müssen vernichten oder vernichtet werden“.

Jahn-Denkmal in Berlin, Postkarte von 1904

Das also der Vorstellungsraum, in dem sich Jahn und Fries bewegen und in den hinein sie ihren „Feuerspruch“ senden: dass man doch gar nichts gegen „die Juden“ habe, aber alles gegen deren „Judentum“. Fries, der eigentliche Denker der jahnschen Fraktion, geht nun einen Gedankenschritt weiter, er versucht die Idee, die sich in jedem Juden verkörpere, gleichsam empirisch zu fassen:

Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum ausrotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler und Händler zerstören.“

Konkret:  „… von den Juden kommt das betrügerische Überbieten im Handel, die falsche Warenbezeichnung und Wertangabe, der Erntevorkauf, die Verbreitung der Lotterien und tausendähnliches …“ an „Betrügereien“, mit denen „sie“  –  die Juden  –  „unsern Volk das Mark ausgesogen“ hätten.

Unverdauter Monotheismus

Auch Karl Marx – er hat 1841 bei Fries üromoviert – hat zunächst so argumentiert, in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ aus 1843 identifiziert auch er das Judentum mit der Sphäre der Zirkulation und diese mit dem Grund allen Übels, also mit dem, was Fries „Trödler und Händler“ nennt. Marx wörtlich:

Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“

Ein weiteres Jahr später ist Marx abgerückt von dieser Art Religionskritik und hat begonnen, die theologischen Mucken der Ware zu analysieren, die sich in ihrer Produktion verbergen. Aber da war der gedankliche Felchaufschwung längst eintrainiert, den Jahn und seine Bewegung vorturnen: hinter jedem Juden ein Abstraktum zu argwöhnen, einen „jüdischen Geist“, der sich nicht greifen lasse, aber griffig werde, falls sich wirkliche Juden greifen ließen.

Man könnte diese Art, in der sie frömmeln, einen unverdauten Monotheismus nennen, der sich jetzt, im Jahrhundert der Wissenschaft, daran macht, empirisch zu belegen, dass es, wenn schon nicht Gott, dann doch ein Böses geben soll. Ein jüdisches Wesen, das einen, wie Fries es nennt, „aussauge“. Sie werfen sich den Lutherrock über, ziehen auf die Wartburg und beschwören  –  das Marx-Zitat passt auch hier  –  „ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen“.

Die neue Szene: eine Scheiterhaufen-Phantasie, Peter Longerich spricht von einer „kruden Ausrottungsrhetorik“, sie assimiliert sich Anfang des 19. Jahrhunderts ins Bewusstsein hinein. Fries beispielsweise, der Denker, erinnert für den Fall, dass die Juden am „Judenthum“ festhalten sollten, an das Jahr 1492, als sie aus Spanien vertrieben wurden,

„wo es allem Volke zur Freude wurde, sie zu tausenden auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu sehen … Und wie ähnlich liegen die Dinge bey uns“.

Auch werden jetzt, im unmittelbaren Umfeld der jahnschen Bewegung, die späten Luther-Schriften popularisiert, die eminent judenfeindlichen. Man sucht Halt in der Tradition, um sich von ihr zu emanzipieren, jetzt sind es die freie Publizistik und Literatur, die, so nochmal Longerich, ein „Arsenal von stereotypen Judenfiguren“ aufbauen. Diskutiert worden sei darüber, ob man Juden erziehen könne oder ausrotten müsse. Wie sehr sich die Vernichtungsphantasie  –  „als Denkexperiment“  –  öffentlich eingenistet habe, zeige sich daran,

„dass sich auch in den Akten der Behörden in diesen Jahren eine Reihe von schriftlichen Äußerungen hoher Beamter finden, die vom ‚Ausrotten‘, von der ‚Vertilgung‘ der Juden sprechen, von der Möglichkeit, sie ‚umzubringen‘, um solche Gedankenspiele dann aber gleich als unrealistisch … zu verwerfen.“

Zwei Jahre nach dem Kostümfest auf dem Wartenberg kommt es in Hunderten deutscher Städte und Ortschaften zu aggressiv judenfeindlichen Pogromen. Diese sog. „Hep-Hep-Unruhen“, eine frühe studentische Revolte, sind heute nahezu vergessen, mancherorts können sie nur mit militärischer Gewalt beendet werden.

Widmungen am Jahn Denkmal Berlin | Malud 2005 CC 3.0

Die Obrigkeit reagiert repressiv, Burschenschaften und Turnbewegung werden verboten, Jahn inhaftiert und anschließend in die Provinz exiliert. Dort passiert es, dass das Manuskript seines großen Werkes über das vorchristliche Germanentum einem, nunja, Brand zum Opfer fällt, weitere Jahre später wird er rehabilitiert und zum deutschen Heros im Turnanzug gemodelt.

Wer war Jahn? Ein Germanomane, eiserner Idealist, „ein enger Deutscher“, wie Heinrich Heine ihn und sein „idealisches Flegeltum“ nannte, eine

„schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition (…) gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“

Nach Jahn sind heute mehr Straßen und Plätze benannt als nach Lessing und mehr Schulen als nach Jean Paul.

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Hier Teil (II) der kleinen Reihe: “‘Jahn-Geist ist Hitler-Geist’ Was tun mit Jahn, dem Turn-Idol?”

Und hier der dritte und letzte Teil: “‘Denkmäler reden lange und laut’ – Ist Jahn ein Fall fürs Stadtmarketing?”