Lass Hitler niemals Recht gewinnen
War Auschwitz beispiellos? Historiker streiten (II)
„Die Nazis werden noch vor ihrem Sturz Rache an uns üben.“ Im Sommer 1942 wird Chaim Kaplan klar, dass es den Deutschen wichtiger ist, jeden einzelnen Juden zu ermorden als ihr 1000jähriges Reich zu erhalten. Ob sie gewinnen oder verlieren, das jüdische Nein zur Macht, die sich vergöttlicht, wäre so oder so aus der Welt gemordet. Und Gott?
Ende Oktober 1940, im Warschauer Ghetto tanzt eine Gruppe frommer Juden, Chaim Kaplan hat die Szene beschrieben, chassidische Juden feiern das Laubhüttenfest: „Als sie sangen, gerieten sie in eine derartige Ekstase, dass sie nicht aufhören konnten, bis ein Freidenker auf sie zutrat und ihnen zurief: ‚Juden! Die Rettung eures Lebens ist ein unbedingtes biblisches Gebot; es ist eine Zeit der Gefahr für uns. Hört auf!‘“
Was hier ein Freidenker ruft, ist eine theologische Reaktion auf die Einsicht, dass es ein Morden wie dieses noch nie gegeben hat. Kiddusch HaSchem hieß immer, Gott die Treue zu halten gegen diesen oder jenen Götzen – im Ghetto von Warschau zeigt sich, dass es völlig egal ist, was der Einzelne tut oder glaubt, ermordet werden alle: „Deshalb ist es an dem Juden, seinen Leib zu verteidigen, sein Leben zu bewahren.”
So der Rabbiner Isaak Nissenbaum, führende Persönlichkeit der religiös-zionistischen Partei, 1942 von den Nazis ermordet. Nissenbaum hat die Maxime von der Heiligung des Lebens – Kiddusch HaHayyim – wohl erstmals im Frühjahr 1940 auf die Situation im Ghetto angewandt, sie wird zum Maßstab für ein qualifiziertes, ein menschenwürdiges Überleben: Als Kiddusch HaHayyim gelten alle Formen des sozialen Widerstands im Ghetto – Schulen und Krankenhäuser, Kulturabende und Gottesdienste, Hauskomitees und Werkstätten uam – und ebenso alle individuellen Strategien, die Menschenwürde für sich selber zu bewahren.
Rechnet auch der bewaffnete Widerstand dazu? Er bricht im April 1943 aus, in Warschau leben nur noch etwa 60 000 Juden, auch von denen, die bewaffnet kämpfen, überleben nur sehr wenige die wochenlange Revolte, unter ihnen Marek Edelman, einer ihrer Anführer. Edelman, Mitglied der polnisch-sozialistischen Arbeiterbewegung, also weder religiös noch zionistisch engagiert, hat sich Zeit seines Lebens dagegen verwahrt, den bewaffneten Aufstand im Ghetto in irgendeiner Weise religiös auszudeuten oder zionistisch oder sozialistisch oder national:
Die Menschheit habe nun einmal „die Vereinbarung getroffen, mit der Waffe in der Hand zu sterben sei schöner als ohne“, erklärt er 1977 im Gespräch mit Hanna Krall, „also haben wir eben geschossen.“
Man habe dies keinem Gott, auch nicht sich selber und erst recht nicht den Deutschen zeigen müssen, sondern einer Weltöffentlichkeit, die nichts anderes als Heroik verstehe, der bewaffnete Aufstand sei völlig konventionell: „Wenn man schießt, ist man auf gleicher Ebene mit seinen Unterdrückern“, so Edelman 2008 in einem Interview.
Denen jedoch, die ermordet worden sind, ohne geschossen zu haben, zollt er allerhöchste Achtung, er hat sie täglich begleitet: „Diese Menschen gingen ruhig und würdevoll. Es ist schrecklich, wenn man so ruhig in den Tod geht. Das ist wesentlich schwieriger als zu schießen. Es ist ja viel leichter, schießend zu sterben, es war für uns viel leichter zu sterben als für einen Menschen, der auf den Waggon zugeht und dann im Waggon fährt …“
Die Heiligung des Lebens, die Heiligung seiner Würde. Während die Deutschen alles daran setzen, die Juden zu “entmenschlichen”, werden sie von ihnen vermenschlicht.
„Wenn mein Leben endet – was wird aus meinem Tagebuch werden?“ Chaim Kaplans letzter Satz, er stammt vom 4. August 1942. Seine Hefte werden aus dem Ghetto geschmuggelt, 1965 erscheinen sie in den USA, 1967 in deutscher Übersetzung. Es ist das Jahr, in dem nicht einer, sondern sieben Staaten – Ägypten, Syrien und Jordanien, unterstützt von Irak, Saudi-Arabien, Kuwait und Algerien – Millionen Juden ihre Vernichtung androhen. Das Jahr, „in dem wir einen zweiten Holocaust fürchten mussten, diesmal in Israel“.
Schreibt Emil Fackenheim, Professor für Philosophie in Kanada, er sieht sich gezwungen, sich „mit dem ersten Holocaust auseinanderzusetzen“, mit der Frage, was die „Logik der Vernichtung“ für eine Theologik bedeutet? Fackenheim, 1916 in Halle/Saale geboren, hat die KZ-Folter in Sachsenhausen überlebt, 1940 ist er aus Deutschland entkommen, 1970 erscheint sein Werk „God’s Presence in History“.
Gottes Präsenz in Auschwitz? Unmöglich, einem Gott zu vertrauen, der in Auschwitz nicht eingegriffen hätte. Ebenso unmöglich zu denken, Hitler hätte über Gott triumphiert. Für Fackenheim – hegelianisch geschult, drei Jahre zuvor hat er The Religious Dimension in Hegel’s Thought veröffentlicht – wird es undenkbar, Gott in den Gaskammern zu denken, Auschwitz einen insgeheimen Sinn zu geben.
Umso dringender, eine Antwort zu geben auf Auschwitz. Aus dem Ort, der sich ohne Gott so wenig denken lässt wie mit ihm, dringe eine „gebietende Stimme“ in die Gegenwart:
„Es ist den Juden verboten, Hitler nachträglich siegen zu lassen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergehe. (…) In alten Zeiten war die undenkbare jüdische Sünde der Götzendienst. Heute ist es die, auf Hitler zu antworten, indem man sein Werk verrichtet.“
Fackenheim nennt dies – das Judentum kennt 613 Gebote – „das 614. Gebot“, so verbindlich wie der Vertrag, den Juden mit Gott am Berg Sinai geschlossen haben. Für säkulare Juden bedeute dies, „die säkularisierte Gegenwart nicht von der religiösen Vergangenheit (zu) trennen: die Stimme von Auschwitz gebietet, dass diese Vergangenheit bewahrt bleibe“. Für religiöse Juden bedeute dies, dass sie sich entschiedener als je zuvor „auf Gott gegen Gott“ berufen:
„Du hast den Bund preisgegeben? Wir werden ihn nicht preisgeben! Du willst nicht, dass Juden überleben? Wir werden überleben …“
Als wollte er Gott eine Tür offen halten. Und damit die Möglichkeit bewahren, weltliche Macht zu relativieren, Allmachtsphantasien einzumessen. Fackenheims Theologie hält das jüdische Nein dem Allerklärungsdrang entgegen.
Das 614. Gebot – lass Hitler niemals Recht gewinnen – hat in den 70er Jahren enorme Resonanz gefunden, auch christliche Theologien haben dem nachgedacht. Nicht viele, aber doch die von Friedrich-Wilhelm Marquardt, protestantischer Theologe an der FU Berlin, 2002 verstorben:
„Auschwitz war dasjenige Ereignis, in dem in der Tat alles von Gott fortweist. Jedoch nicht ins Leere, sondern auf uns. Nicht wie Er, wie wir es zulassen konnten, ist die Stimme, die uns von dorther erreicht.“
Die Möglichkeit, Gott zu erkennen, lasse sich für Christen „nicht mehr von Auschwitz lösen“, so Marquardt, der Ort markiere „das Ende aller theologischen Rationalisierungen“. Dieses Ende hinzunehmen wie ein Urteil der Geschichte, hieße nun aber, Hitler zu beglaubigen, als hätte just er den Tod Gottes verfügt:
„So unmöglich die Frage nach Gott in Auschwitz … noch unmöglicher, sie würde gar nicht mehr laut“.
Marquardt stellt die Frage leise, vom christlichen Gott spricht er allein in einer utopischen Perspektive. Utopie heißt, der Kredit ist nicht gedeckt, nach Auschwitz gibt es keine Möglichkeit mehr, das Feld der Geschichte von vorne aufzurollen. Die Flucht nach oben – der Sprung aus der Geschichte heraus – ist eh versperrt, es bleibt nur der Versuch, sich biblische Theologie von ihrem Nullpunkt her, der Berufung Abrahams, neu zu erarbeiten.
Was ihm diesen Tigersprung zurück durch eine fatale Geschichte hindurch ermöglicht, bleibt unausgewiesen, seine Theologie ist sich ihrer Unmöglichkeit von Beginn an bewusst. Marquardt setzt darauf, dass sich Denken nur im Tun vollzieht, ein für biblisches Denken wesentliches Prinzip: Falls sich Theologie bewahrheite, dann „unterwegs“.
Auf diesem Gedankenweg aber, und das ist das Charakteristikum von Marquardts Theologie, hält er ihre „Infragestellung“ durch, sie geht jedem seiner Schritte voran. Nicht als Herold aus dem himmlischen Off, das permanente Relativieren eigenen Denkens hat seinen eigenen Ort 50° 2′ N, 19° 14′ O.
Theologie ist symbolisches Sprechen.[1] Ob Gott nach Auschwitz noch zu denken sei, lässt sich lesen wie die Frage, ob Vernunft nach Auschwitz noch zu fassen, Aufklärung über sich selber aufzuklären sei. Die Denkfiguren, die Theologie an die Hand gibt, lassen sich analytisch nutzen oder so, wie es Dirk Moses tut. Der Globalhistoriker spricht von “biblischen Themen“, die „unter dem Schaum der Oberfläche“ fließen, den er schlägt. Wissenschaftlich gesehen dünne Suppe, die er bietet, es schwimmen antijudaistische Brocken darin. Moses taucht tief ein und mit Vorschlägen wieder auf, wie Israel zu versenken sei.
ANMERKUNGEN
[1] Es gibt viele weitere Versuche, Auschwitz theologisch zu reflektieren, einen detaillierten Überblick über jüdische Reaktionen bietet der Historiker Christoph Münz in „Der Welt ein Gedächtnis geben“ (1995), in komprimierter Form hier (pdf) . Eine Textauswahl ua von Emil Fackenheim, Richard L. Rubenstein, Irving Greenberg und Emmanuel Levinas bieten Brocke/Jochum (Hg), Wolkensäule und Feuerschein (1993).
Yehuda Bauer diskutiert in „Die dunkle Seite der Geschichte“ (2001) einige jüdisch-theologische Deutungen vor allem der (Ultra-) Orthodoxie. Bei aller Kritik legt er Wert darauf, die „tiefgreifende emotionale und intellektuelle Erschütterung“ gerade der chassidischen Theologie zu begreifen, sie hat den Großteil des osteuropäischen Judentums geprägt, gerade hier war der Anteil der Überlebenden minimal.
Ein wesentlicher Punkt ist immer auch die Frage, nicht ob, sondern wie der Staat Israel theo-politisch gedeutet wird. Mit Blick auf Auschwitz ist ein schlichtes entweder sakral oder säkular ausgeschlossen: Die Rettung, die Israel hätte sein können, kam entschieden zu spät, so Emil Fackenheim, insofern sei Israel keine Reaktion auf Auschwitz, nur: „Wenn Rettung einmal zu spät kam, dann könnte sie nochmal zu spät kommen … Der Staat könnte zerstört werden. Aber das wird nie geschehen.“ Nie geschehen dürfen. Der Satz ist unweigerlich an Hoffnung geknüpft, Hoffnung ist der Theologie verwandt: „Niemals hat Hoffnung so viel Schaden angerichtet wie während des Holocaust”, so Fackenheim, “und niemals ist Hoffnung für einen Juden so nötig gewesen wie danach.“