Historikerstreit

Über die theologischen Wurzeln des Versuchs, Unfassbares zu fassen

War Auschwitz beispiellos? Historiker streiten (I)

Ghetto in Warschau 1945/47: Steinwüste mit St. Augustin-Kirche

Eine Million Kinder ermordet, und das soll Gott unberührt gelassen haben? Nach Auschwitz gibt es Theologien, wie es sie vorher gab, so wie es alles gibt, was es gab, das Auschwitz möglich gemacht hat. Es gibt aber auch Theologien, die sich von Grund auf in Frage gestellt sehen. Nicht, weil Auschwitz ein metaphysisches Ereignis gewesen sei, sondern weil dies der deutsche Name ist für 50° 2′ N, 19° 14′ O, einen Ort, an dem es unmöglich wird, Geschichte als Heilsgeschichte zu entwerfen oder als diskrete Evolution oder als Lernparcours. Nur sind es derzeit just Historiker – Jürgen Zimmerer, Achille Mbembe, Dirk Moses -, die behaupten, Auschwitz komme „häufiger“ vor und „überall“, es sei ein „verbreitetes Muster“. Auffällig, dass sie dies theologisch begründen: Wer Auschwitz für singulär halte, bedeuten sie, verehre den „Holocaust als heiliges Objekt“, bete einen „Fetisch“ an und einen „Katechismus“ nach. Im theologischen Sprech, das sie sich borgen, steckt mehr als Verkaufe: Abgeräumt werden alle Versuche, Hitler nicht noch im Nachhinein siegen zu lassen.

Dass etwas geschieht, was nie zuvor geschehen ist, haben Zeitgenossen erkannt, bevor Auschwitz errichtet wurde. Am 30. Januar 1939 hatte der Reichskanzler –  „ich will heute wieder ein Prophet sein“  –  öffentlich „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa” angekündigt, die Frankfurter Zeitung betitelte Hitlers Rede mit „Ich glaube an einen langen Frieden“. Am ersten Tag des langen Krieges beginnt Chaim Kaplan, Rektor einer Sprachschule, in Warschau ein Tagebuch:

„1. September 1939. Ein neuer Weltkrieg. (…) Wohin Hitler auch kommt, dort gibt es keine Hoffnung für die Juden. Hitler, möge sein Name getilgt werden, drohte in einer seiner Reden damit, dass die Juden Europas im Kriegsfall ausgerottet werden würden. Die Juden begreifen und ahnen alles, was sie zu erwarten haben …“

Der Publizist Sebastian Haffner schreibt Anfang 1939 im englischen Exil, seit Jahren sei die „Absicht der Nazis“ zu erkennen, „die Deutschen dazu abzurichten, dass sie die Juden über die ganze Welt verfolgen und möglichst ausrotten“: Dies sei „etwas tatsächlich weltgeschichtlich Neues“.

In den USA spricht Jakob Lestschinsky im April 1941 von einem „new totalitarian type of pogrom“  –  ein halbes Jahr, bevor Juden in Deutschland den Gelben Stern tragen müssen, bevor der Holocaust by bullets beginnt, bevor die Nazis in Auschwitz mit „Probevergasungen“ experimentieren. Der NS-Staat, so der 1933 aus Deutschland ausgewiesene Wirtschaftswissenschaftler, organisiere einen „permanenten Pogrom“, der kein ökonomisches oder politisches Ziel verfolge außer „die Ausrottung, die physische Vernichtung seiner jüdischen Bürger“.

Das Bewusstsein dafür, dass etwas nie Geschehenes geschieht, sagt Andrea Löw, stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (IfZ), sei „weder räumlich begrenzt noch auf eine bestimmte Personengruppe eingeschränkt“. Sie zitiert den Schriftsteller Wassili Grossman, der Ende 1943 den handgemachten Genozid deutscher Erschießungskommandos in der Ukraine beschreibt:

„Seit Bestehen der Menschheit hat es kein solch unerhörtes Massaker, keine solche organisierte Massenausrottung vollkommen unschuldiger, schutzloser Menschen gegeben. Das ist das größte Verbrechen, das die Geschichte kennt […] niemand hat so viel Blut auf der Erde vergossen, niemand hat solche Verbrechen begangen.“

78 Jahre später fordern die postkolonialen Denker Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer: „Enttabuisiert den Vergleich!“ Auch andere historisch informierte Stimmen suggerieren hartnäckig, wer Auschwitz für beispiellos halte, lagere das Geschehen aus der Geschichte aus und schwinge wie aus dem Jenseits die, so Aleida Assmann, „Keule der Zensur“. Das Gegenteil ist der Fall, sagt Löw: Ob dieses Morden singulär sei, die Frage sei so alt wie das Morden selber, ebenso das Vergleichen, um „das Spezifische des Holocaust gegenüber anderen Genoziden herauszuarbeiten. Dies wussten schon die Zeitgenossen.“


Warschau im 18. Jh: Bernardo_Bellotto (1722-1780), National Museum Warschau

Chaim Kaplan in Warschau. Eingepfercht in der eigenen Stadt, versuchen er und 380 000 Warschauer Juden, einem bedrohlich Ungreifbaren Sinn zu geben:

 „Es ist falsch zu glauben, dass der Sieger ein Meister der Logik und Ordnung ist“, schreibt der Pädagoge am 1. Dezember 1939. Seit drei Monaten wird die Stadt von den Deutschen regiert, alle ihre Maßnahmen trügen „den Stempel der Verwirrung und Unlogik“. Deutlich zu erkennen sei dagegen das Ziel, das sie verfolgen, die „völlige Ausrottung und Vernichtung“ der Juden:

„Wir haben es mit einer hochkultivierten Nation, mit einem ‚Volk des Buches‘ zu tun“, notiert er drei Wochen darauf, „ich fürchte solche Menschen! Wo das Plündern auf Ideologie beruht, auf Weltanschauung, die ihrem Wesen nach geistig ist, kann ihnen nichts an Stärke und Ausdauer gleichkommen.“

Kaplan wird zum Analytiker einer unlogischen Logik. Im Februar 1940 bemerkt er, wie die „Zerstörungslust“ wächst, „noch bevor sie Befriedigung fand“, und einige Tage darauf, wie er und die Warschauer Juden versuchen, mit Logik auf eine Gewaltdynamik zu reagieren, die sich aus sich selber heraus radikalisiert: Gerade weil das Vorgehen der Nazis „von einem krankhaften Hass vergiftet“ sei, so ihre Deutung, eben „darum sind alle ihre törichten Erlasse, die Frucht dieses Hasses, zum Scheitern verurteilt (…) Nichts, was auf einen Wahn beruht, kann von Dauer sein.“

Auch im April 1940 vertraut Kaplan  –  talmudisch geschult  –  auf Vernunft, um Nazis zu verstehen: „Gibt es auf der Welt Rache für das Vergießen unschuldigen Blutes?“ fragt er, „ich bezweifle es.“ Rache ist, jüdisch gedacht, allein das Recht Gottes, „die Greuel, die vor unseren Augen verübt werden, schreien zum Himmel nach Rache“  –  auch von dort keine Reaktion, warum? „Man antworte mir nicht mit müßigen Reden“, schreibt Kaplan, „ich will eine logische Antwort!“

Eine der logischen Antworten, die er im Oktober festhält, ist die Überzeugung, „dass es eine Art psychologische Schranke gibt, die die Eroberer daran hindert, ihren vollen Grimm auf uns auszuschütten“. Eine andere, wenige Tage später notiert: dass die Mörder „trotz aller ihrer Grausamkeit und Verruchtheit menschliche Gefühle hätten“.

Solche humanwissenschaftlichen Gewissheiten aber reichen nicht mehr an den Alltag heran, 30. Mai 1942: „Der fehlende Grund für diese Morde beunruhigt die Ghettobewohner besonders. Um uns zu beruhigen, fühlen wir uns genötigt, eine Art System zu entdecken … jeder Mord muss eine Ursache haben …“

9. Juni 1942: „Man verwendet eine ungeheure geistige Anstrengung darauf, hinter dem ganzen Gemetzel ein Motiv zu entdecken (…) Aber keine der Theorien hat Hand und Fuß; es gibt immer Fälle, die mit dem angeblichen Motiv nicht übereinstimmen, die unberechenbar und logisch nicht einzuordnen sind.“

Erkennbar allein das nackte Tun: “zu vernichten, zu morden, zu vertilgen. Das sind die einzigen Gründe.“

Jetzt, im Sommer 1942, lässt sich auch der Versuch, Hoffnung auf eine globale Perspektive zu gründen, nicht mehr durchhalten. „Wenn die Demokratie fällt, fallen wir auf ewig“, hatte Kaplan im März 1941 verhalten optimistisch vermerkt, Ende Juni 1942 erinnert er diese globalpolitische Draufsicht als die Vergangenheit einer Illusion:

„Wir hatten in unserem Leben einen Trost: unseren Glauben an den Sieg der Demokratie; unseren Glauben daran, dass ihre Kräfte stärker wären als jene der anderen Seite, des Feindes der Juden und des Feindes der Menschheit.“

Der Trost versiegt, am 22. Juli 1942 beginnen die Deportationen. Tag für Tag werden die Menschen zu Tausenden in die Waggons gezwungen, auch Kaplan und seine Frau. Innerhalb von sechs Wochen wird die größte jüdische Gemeinde Europas in das nahe gelegene Treblinka deportiert, um ermordet zu werden.

„Jene, die von historischen Vertreibungen aus Büchern einen Begriff haben, wissen nichts.“

Über 1069 Tage hinweg hat Kaplan sich selber dabei beobachtet, wie er versucht, Schritt zu halten mit einer Gewalteskalation, die kein Maß kennt und jedes Muster sprengt. Mit einem Historiker wie Dirk Moses  –  87 Jahre später und 15 000 Kilometer entfernt geboren  –  hat er gemeinsam, dass auch er sich mit allem Vermögen gegen den Eindruck wehrt, dieses Morden sei singulär. Anders aber als Moses dekliniert Kaplan alle Argumente durch, die es möglich machen könnten, die Singularität von dem, was um ihn herum geschieht, tatsächlich zu widerlegen. Punkt für Punkt versucht er, ein vertrautes Moment zu erkennen, mit dem das Geschehen erklärlich, ein Reagieren möglich wäre, Punkt für Punkt scheitert der Versuch:

„Nie hat sich in der Geschichte je eine Tyrannei erlaubt, öffentlich zu proklamieren, dass sie ein ganzes Volk auszurotten gedenkt“, schreibt er wenige Tage vor Beginn der Deportationen in den Tod: „Und das ist, Gott behüte, kein gesetzloses Mordwerk. Im Gegenteil, das Programm wurde in der ganzen Welt verkündet; es hat praktisch formell seine Sanktion erhalten.“

Die Erfahrung des Ghettos ist keine, die im Ghetto eingeschlossen wäre, Kaplan erkennt auch dies bereits während des Mordens: Sie ist  –  bevor sie entstand, nicht erst im Nachhinein   –  globalgeschichtlich sanktioniert, das deutsche Wort dafür lautet geheiligt.


Altstadt von Warschau 1945

Eintrag vom 11. Juli 1942:  „In der Tat ist das nicht die erste physische Vernichtung, die sich in der jüdischen Geschichte ereignet hat. In jeder Generation haben sie sich gegen uns erhoben, um uns zu vernichten. Die uns aus unserer Geschichte bekannten Erfahrungen gleichen jedoch nicht unserer jetzigen Erfahrung. Es besteht keine Ähnlichkeit zwischen einer physischen Vernichtung, die das Ergebnis eines plötzlichen Ausbruchs zum Mord aufgehetzter fanatischer Pöbelhaufen ist, und diesem kalkulierten Programm einer Regierung, die für den Vollzug einen eigenen Mordapparat organisiert hat.“

Fast unmerklich, wie Kaplan hier historische Erfahrung und politische Analyse mit einem religiösen Bewusstsein vermittelt: Der Satz „In jeder Generation haben sie sich gegen uns erhoben, um uns zu vernichten“ stammt aus der Pessach-Liturgie, dem Regiebuch für das Fest, das an die Befreiung aus der Sklaverei erinnert, die Passage dort lautet:

„… nicht einer allein ist aufgestanden, um uns zu vernichten, sondern in jeder Generation stehen sie gegen uns auf, um uns zu vernichten. Doch der Heilige, gelobt sei Er, hat uns aus ihrer Hand errettet.“

Dass Gott dies verlässlich tue, darauf zu bauen ist kein „Nachbeten“ eines „Katechismus‘“, um die Dirk-Moses-Denke zu bemühen, sondern ein historisches Bewusstsein, das grundgelegt wurde in der Befreiung aus der Sklaverei, dann durch assyrische und babylonische Zerstörung hindurch bestätigt, durch griechisches und römisches Morden, christliches und islamisches, westliches und östliches, kaiserliches und zaristisches, durch Altertum und Neuzeit, Mittelalter und Moderne, Aufklärung und rationalisiertem Judenhass.

In dieser Geschichte, dem Gedächtnis von Generationen, hat sich ein Weltvertrauen ausgebildet, das sich Nicht-Juden nur ansatzweise erschließt: das Vertrauen auf den Vertrag, den Juden mit Gott in der Thora besiegelt haben, und  –  dies die universale Entsprechung  –  das Vertrauen in eine Vernunft, die allen Menschen gegeben sei. Die beiden Seiten dieses Weltvertrauens sind verschwistert, oft verkracht, eng vertraut. Von außen besehen ist ihnen gemeinsam, dass sie Macht, auch Übermacht relativieren, alles, was sich höher gibt denn alle Vernunft. Gemeinsam daher das Selbstbewusstsein, keinen Götzen anzubeten, weder Kaiser noch Tribun, sondern zu geben, was des Kaisers ist, aber niemandem, was Gottes ist, außer Gott. So hat es ein Rabbi aus Nazareth formuliert, der Historiker Heinrich August Winkler nennt diese eminent jüdische Unterscheidung die „Keimzelle der Gewaltenteilung überhaupt“. Erst in dem Freiraum, der sich hier auftut, habe sich die „Geschichte des Westens“ hinein entwickeln können.

Gewaltenteilung aber provoziert Gewalt. Vom “Dämon des ewigen Verneinens” sprach  –  ein Beispiel aus der neueren Zeit  –  der Chefideologe der Nazis, Alfred Rosenberg, Hitler selber sprach von „zwei Weltanschauungen, die heute miteinander ringen: Auf der einen Seite die schöpferische Arbeit (…), auf der anderen Seite der Geist der stets Verneinenden, der Geist des ewig Negativen“.

Der Geist des ewig Relativen, der Geist, der sich weigert, Endliches als unendlich anzubeten, der jede weltliche Macht in ein Verhältnis setzt, sie begrenzt. 1000jährige Reiche? Vor Gott wie ein Tag. Wer für das Relativieren der Macht von ihr erschlagen wird, der, so die jüdische Lehre, heiligt den Namen Gottes, der rabbinische Ausdruck dafür: Kiddusch HaSchem.

Und jetzt, im Jahr 5701, geschieht etwas, das sich allem Relativieren entzieht. Im Ghetto von Warschau wird Chaim Kaplan klar, dass er sich hier einem Absoluten gegenüber sieht, einer Totalität, die sich in kein Verhältnis setzen lässt, nicht einmal zu sich selber, ihrer Selbsterhaltung:

„Die Nazis (…) werden noch vor ihrem Sturz Rache an uns üben“, schreibt er am 16. Juni 1942: „Es ist Mord und Vernichtung schlechthin.“

Weil jeder Mord den nächsten begründet: Die Strafe wird von den Deutschen antezipiert und am nächsten Opfer vollstreckt noch vor dem eigenen Ende. Das Mordgeschehen als perpetuum mobile, das keine Energie verliert an einen Zweck, der außerhalb läge. Dieses Morden, das sieht Kaplan klar, findet seinen Sinn in sich selbst, so hebelt es die Selbsterhaltung aus, ureigenes Motiv der Macht: Der Tod jedes einzelnen Juden wird wichtiger als ein 1000jähriges Reich zu erhalten.

Und damit wird klar, dass  –  sollte es geschehen, dass die Nazis wieder aus der Geschichte verschwinden und Stalin bleibt  –  es keinen mehr geben wird, den Gott erretten könnte aus dem globalen Ghetto. Keinen, der den Namen Gottes heiligen könnte, keinen, der falsche Götter blamieren würde. Ob die Nazis gewinnen oder verlieren, das jüdische Nein zur Macht, die sich absolut denkt, wäre so oder so aus der Welt.

Das ist der theologische Kern der Einsicht, dass Auschwitz beispiellos ist.


Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch des Chaim A. Kaplan; hrsg. von Abraham I. Katsh; Insel Verlag 1967 (derzeit nur antiquarisch)