„El-Alamein-Babyboomer“

Edna Brocke, mit dem Hans-Ehrenberg-Preis geehrt, über sich und uns

Dr. Edna Brocke 2009 bei der Verleihung des Hans-Ehrenberg-Preises in der Christuskirche Bochum by Ayla Wessel (c)

“Now this is not the end, it is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end of the beginning.” Erklärte Winston Churchill, britischer Premierminister, nachdem die Briten die deutsche Wehrmacht bei El Alamein gestoppt hatten, das war am 4. November 1942. Bis zu diesem Tag musste, wer im britisch mandatierten Palästina lebte, damit rechnen, dass deutsche Truppen das heutige Israel von Süden her aufrollen würden mit dem Ziel, alle Juden zu ermorden. Unter ihnen Käte und Ernst Fürst, acht Jahre vor El-Alamein waren sie aus Deutschland nach Jerusalem entkommen, neun Monate nach El-Alamein kommt Edna zur Welt. Genauer: Sie kommt in ihre eine Welt, ihre zweite kommt später hinzu. 79 Jahre später hat Edna Brocke, die Nichte von Hannah Arendt, ihr „Leben in zwei Welten“ bilanziert, das Büchlein aus dem Lit-Verlag ist keine Autobiographie, eher ein assoziatives Erinnern, sehr unterhaltsam, völlig subjektiv „und ein wenig exemplarisch“.

Von 1988 bis 2011 Jahr hat Edna Brocke die Alte Synagoge Essen geleitet, sie hat das Haus von seinem musealen Mahnmal-Konzept befreit: „Ich war nicht gewillt zu ‚ermahnen‘, sondern zu erklären, was erklärt werden kann, und offen zu lassen, was nicht zu erklären ist.“  Ihr Konzept: den Jewish way of life zu zeigen, dessen komplexe und komplizierte Vielfalt, ein „Haus jüdischer Kultur“.

Es ist ein Turnaround der deutschen Erinnerungskultur, ihn anzuschieben, hat die Politologin 20 Jahre gekostet. Wieder und wieder wurde ihr Konzept in der lokalen Kulturpolitik zerrieben, auch dies „ein wenig exemplarisch“, nämlich das Bedürfnis, Juden, „die einst dieses Haus erbauen ließen und bevölkerten“, als Opfer aufzusockeln und einzubetonieren, so wie es das Holocaust-Denkmal in Berlin mit gigantischer Geste vorführt.

2008 wird Brockes Konzept denn doch vom Essener Stadtrat beschlossen, ein El-Alamein-Kind wie sie steht da bereits im siebten Jahrzehnt des Lebens. Am Anfang stand ein Babyboom, wie er sich schöner nicht ausmalen lässt: Die Wehrmacht im Wüstensand zerrädert, die Juden machen Liebe. Als Edna 1949 eingeschult wird in Jerusalem, müssen fünf Klassen gebildet werden, in den Jahren zuvor war es immer nur eine gewesen:

„Es ist vielleicht die erste jüdische Generation, die über sehr viele Jahre hinweg einen stetigen und wahrnehmbaren Aufstieg erlebte“, schreibt Brocke, „die erste Generation, die in einen eigenen jüdischen und demokratischen Staat hinein geboren wurde.“ In das einzige Land dieser Welt, in dem, wie Ephraim Kishon anmerkte, Eltern die Muttersprache von ihren Kindern lernen.

Während Edna eine Fremdsprache von ihrer Tante lernt, von Hannah Arendt. Die zunehmend prominente Philosophin des politischen Denkens schreibt ihr, dem „Fröschlein“, wundervolle Briefe aus den USA  –  „natürlich auf Deutsch“ und „‘mit so vielen Küssen wie Du Dir ausrechnen kannst (aber ohne Rechenmaschine)‘“.

„Diese zwei Völker passen nicht zusammen“

Nichte und Tante kommen bis zu Hannah Arendts Tod im Dezember 1975 regelmäßig zusammen, fast beiläufig schildert Brocke folgende Szene, sie spielt im Sommer 1967 kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg, erstmals können Juden wieder nach Ostjerusalem und an der Klagemauer beten. Auch Arendt reist nach Ostjerusalem, dann weiter nach Gaza, Nablus, in die West-Bank, Edna Brocke begleitet sie, und dann sagt Arendt   –  die ja heute gerne als Kronzeugin reklamiert wird dafür, dass der jüdische Nationalstaat von Übel sei und man eine bi-nationale Lösung schaffen müsse „from the river to the sea“, wobei Juden dann eben die Rechte einer Minderheit genießen würden ganz so, wie sie es die 2000 Jahre zuvor tun mussten  –  jetzt also dieser Satz von Hannah Arendt: „Diese zwei Völker passen nicht zusammen“.

Hannah Arendt 1958 by Barbara Niggl Radloff cc 4.0

Die Szene als Beispiel dafür, wie sehr sich Politik und Brockes Leben einander vermählt haben: 1948 wird ihr Kinderzimmer durch mehrere Volltreffer verwüstet, 1967 sitzt sie mit ihrem damaligen Mann  –  Michael Brocke, er hat die Jüdischen Studien an der Uni Duisburg-Essen aufgebaut  –  im Fahrradkeller eines Hauses in Tel Aviv „und harrte der befreienden Sirene“. Im Jom-Kippur-Krieg 1973 sitzt sie in Deutschland fest und telefoniert täglich mit ihren Eltern: „Mein Vater sagte: Das Land, das mir einst das Leben rettete, verlasse ich nicht, wenn ich in Gefahr bin. Meine Mutter vertrat trotz ihrer großen Angst die gleiche Meinung. Das war für mich eine Art Vermächtnis.“

In den Holocaust hineingeboren und dann mit 30 drei Kriege durchlebt  –  Edna Brocke hat einen völlig anderen Schluss daraus gezogen als den, der hierzulande gängig ist: „Nie wieder“ heißt für sie, Offizierin der israelischen Armee, eben nicht „Nie wieder Krieg“, sondern „Nie wieder kampflos Opfer werden“.

In der Tat „zwei Welten“. Und dann kam es „eher durch Zufall“, dass Brocke Anfang 1971 in die Rolle geriet, zwischen beiden Welten zu vermitteln: „Einige christliche Aktivisten im sog. Christlich-Jüdischen Dialog wandten sich an mich und fragten, ob ich bereit wäre, in ihrem Kreis mitzuarbeiten.“ Deren Arbeitsgemeinschaft, seit 1961 beim Evangelischen Kirchentag angesiedelt, hat innerkirchlich gesehen enorme Meriten, theologisch war sie die Avantgarde ihrer Zeit  –  war aber eben auch Kind dieser Zeit: Brocke, selber keineswegs religiös, aber religiös gebildet, gerät in ein linkschristliches, hoch politisiertes Milieu.

Sie schließt Freundschaften, wundert sich über Terrorphilie und Dorothee Sölle (kein „intellektueller Tiefgang“, aber „eindringlich hohe Stimme“) und ahnt bereits, dass sie es mit einem Bürgertum zu tun hat, „das politische Fragen zwar zuweilen erkennt, aber eben nicht zu analysieren vermag (…) Das oberste Kriterium scheint mir (…) das Moralisieren zu sein“, geleitet von einem „subkutan mitlaufendem Gefühl der Überlegenheit“.

Dann „der Bruch“

Sommer 1982, die PLO startet ihre Terror-Attacken gegen israelische Zivilisten aus dem Libanon heraus, Israel reagiert, einige Mitglieder der Dialog-AG schalten eine  –  heute würde man sagen: „israelkritische“  –  Anzeige in der FAZ. Mit-Initiator ist der Berliner Theologieprofessor Helmut Gollwitzer, der, so Brocke nüchtern, „weniger für seine fachliche Expertise bewundert wurde, sondern vor allem für seine zahlreichen linken Positionen“.

Einige Wochen später bedauert Gollwitzer seine Aktion Brocke gegenüber, dies allerdings mit einer seltsam verdrechselten Begründung („‘wir gehören alle zu Israel‘“), was Brocke vollends bestürzt:

„Vielleicht gehöre ich einer Generation an, die mit gewissem Recht eine traumhaft schöne Illusion hatte, von der sie nun ernüchtert wurde. Ich hatte nämlich die Illusion, es habe sich durch die Shoah wie auch durch die Entstehung des Staates Israel etwas radikal verändert im Hinblick auf das Verhalten gegenüber Juden. Seit vier Monaten weiß ich, dass ein solcher radikaler Einschnitt nicht stattgefunden hat.“

Sie dringt nicht durch. 1990/91 der nächste Krieg in ihrem Leben, Saddam Hussein erklärt, er werde Israel mit Giftgas eindecken. In Bonn demonstrieren 200 000 dafür, Saddam auf keinen Fall in den Arm zu fallen, 200 plädieren dafür, Israel beizustehen, ein Verhältnis von 1000 : 1. Und die  Dialog-AG eiert rum, für Brocke ein Schlusspunkt.

Israel im Golfkrieg 1991 by archives.mod.gov.il (cc)

Was wäre denn auch zu tun, wenn sich unter allen „Bettlaken-Bürgern“   –  in der Zeit waren weiße Bettlaken eine Annonce, die aus dem Fenster hängte, wer sich mit Saddam Hussein persönlich arrangieren wollte, damit der das Giftgas ausschließlich an Israel adressiere  –  lediglich 1 findet, der nicht kapituliert vorm Judenhass? Was noch tun, wenn nach all dem „sogenannten christlich-jüdischen Dialog“  –  das schreibt Brocke 2007, die Anlässe wiederholen sich regelmäßig  –  sich niemand findet, der ähnlich „existenziell erschrocken“ wäre wie sie?

Wenn doch, wäre es jene radikale Veränderung, die Brocke erhofft hat. Wenn nicht, wird klar, dass zwischen Christen und Juden viel dialogisiert werden kann, viele Differenzen überwunden werden können, aber es würde eine Glaswand bleiben, durch die man sich gegenseitig sieht und vielleicht auch hören kann  –  aber eine Hand kann man durch das Glas nicht reichen.“

„Eine Grenze hast du gesetzt“

Zu ihrem 60. Geburtstag wird ihr eine Festschrift gewidmet, der Titel ist ein Zitat aus der jüdischen Bibel, dem Tanach, dort aus Psalm 104: „Eine Grenze hast du gesetzt“. Es ist als Dank gemeint, formuliert von theologischen Freunden  –  unter ihnen der inzwischen emeritierte Bochumer Neutestamentler Klaus Wengst  – , die in der Lage sind, nicht nur durch das Glas hindurch zu sehen, sondern das Glas selber wahrzunehmen.

2009 dann nimmt Edna Brocke in der Christuskirche Bochum den Hans-Ehrenberg-Preis entgegen: Brockes Kritik, so die Begründung der Jury (der ich angehöre), befähige dazu, “aus dem jüdisch-christlichen Dialog heraus das Unterscheidende fruchtbar zu machen, weil die Grenze der wirklich fruchtbare Ort der Erkenntnis ist.”

Der Satz von der Grenze, den Brocke in ihrem Buch zitiert, stammt von dem protestantischen Kulturtheologen Paul Tillich, der wiederum Pate steht für das Konzept der Christuskirche als Kirche der Kulturen. Und so, nach 191 assoziationsreichen Seiten, assoziiert man sich selber der Frage entgegen, was es sei, das, bei aller Nähe, einen El-Alamein-Boomer von all den deutschen Babyboomern unterscheide:

„Scho’ah-Überlebende“, schreibt sie und meint nicht zuletzt ihre Eltern, „hätten jedes ‚Recht‘ gehabt, sich selbst als ‚Opfer‘ zu betrachten.“

Auch Edna Brocke hätte jedes Recht gehabt, sich so zu sehen und sich im erinnerungspolitischen Modus als Opfer zu inszenieren  –  etwa so, wie es die palästinensische Gesellschaft tut, die sich, darauf weist Brocke an einer Stelle hin, inzwischen als „5. oder 6. Generation von Opfern“ begreift.

Alle wollen Opfer sein

Diese Pose, der sich Brocke verweigert, hat die palästinensische Gesellschaft nun aber durchaus mit der bundesdeutschen gemein, auch hierzulande wird der Opferstatus durch die Generationen hindurch vererbt: „Opa war kein Nazi“ und dann erst die Oma, die sich und ihre Kinder durch schwere Zeiten geschoben habe, längst hat sich diese Figur, ½ Mutter Gottes ½ Mutter Courage, zur populären Predigtfigur gemausert. Danach die RAF-Romantik, von Omas Kindern zur Weiße-Rose-Ästhetik verschwärmt; die Friedenssehnsucht der Enkel, die in den 80ern darauf baute, als Opfer von Großmächten zu erscheinen; eine Generation weiter geben sich rechtsgedrehte Querdenker als Anne Frank aus, daneben schon die  –  „Ihr habt mir meine Kindheit gestohlen“ – Greta-Generation …

Alle wollen Opfer sein. In dieser Selbst-Inszenierung überdauert ein magisches Vertrauen auf die erlösende Kraft, die das Opfer besitze, es ist ein sowohl theologischer wie politischer Kurzschluss. Das Kalkül: Wer einer höheren Macht opfert, dürfe auf Gnade hoffen, auf Sympathie und Beifall, auf Aufmerksamkeit und  –  dies die säkulare Variante  –  Auftritte und Kohle. Im Judentum ist dieses Kalkül schon lange perdu, Juden zuerst haben das Menschenopfer abgeschafft und dann den Glauben desavouiert, dass ein stellvertretendes Opfer überhaupt von irgendetwas erlösen könne oder zu irgendetwas befreien oder dass es mit einem sehr viel teureren Geschenk vergolten werden könnte.

Alte Synagoge Essen 2010 by Frank Vincentz cc 3.0

Hier liegt, so lese ich Edna Brocke, ein jüdischer, ein wesentlich theo-politischer Widerspruch zur christlichen Theologie, zur immer noch gängigen, die besagt, ein Einzelner habe sich selber als Opfer gegeben, um so die Sünden aller zu sühnen. Eine absurd magische Vorstellung schon deshalb, weil das Kalkül so durchsichtig ist, kein Gott lässt sich so übers Ohr hauen und kein Saddam: Als die weißen Bettlaken gehisst wurden – vergase du Israel, lieber Saddam, und lass dir daran genügen – hat der Publizist Eike Geisel derlei Sühneopfer-Logik die „Banalität des Guten“ genannt.

Die Banalität des Bösen hat Hannah Arendt bloßgelegt, Edna Brocke die des Guten, wenn das keine Familiengeschichte ist. Mit dem „Haus jüdischer Kultur“  –  heute nicht mehr das, was es unter ihrer Leitung war, „Idee und Aufbau scheinen dem Nachfolger nicht nachvollziehbar zu sein“, schreibt sie freundlich  –  hat sie dem eine Form gegeben. Würde man sie nutzen, diese Form, machte sie mehr als Verstehen möglich und mehr als Dialog, nämlich eine gemeinsame politische Praxis  –  nehmen wir nur einmal diese Empfehlung von Edna Brocke an den so weltoffenen Kulturbetrieb:

„Im Hinblick auf die Scho’ah sollte man nicht fragen, warum die Menschen damals ‚Mein Kampf‘ nicht gelesen haben, und wenn sie es gelesen haben, weshalb sie es nicht ernst genommen haben. Heute muss man fragen: Weshalb lesen die Menschen nicht die Werke der ‚Philosophen des Terrors‘, und wenn sie sie lesen, weshalb nehmen sie sie nicht ernst?“

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Edna Brocke, Leben in zwei Welten. Erfahrungen einer Israelin in Israel und Deutschland. Lit-Verlag Berlin/Münster 2021