Klassik, Kulturpolitik, Pop

Le Pop pour Le Pop

Kultur im Krieg

Marilyn Monroe, Korea 1954 by U.S. Dept. of Defense | Public Domain

Pop-Kultur war immer beseelt von Gewissheit. Völlig fraglos, ob auf der Bühne oder davor, dass man bezaubere und überzeuge und falls doch einmal widerlegt, dann nur durch Pop, niemals durch Panzer, durch Putin schon gar nicht. Eine schöne Gewissheit, sie schält sich gerade täglich ab, es ist ernüchternd. Wenn Pop-Songs, die gegen Putin ins Feld geführt werden, so alt sind wie die Waffen, mit denen Putin diesen Pop bekriegt, gibt es nichts mehr zu tun. Vielleicht ist das eine Chance.

Russland bekämpft die Ukraine, Putin bekämpft den Pop. In seiner Kriegserklärung sprach der postsozialistische Diktator vom „kollektiven Westen“, der drauf und dran sei, „unsere traditionellen Werte zu zerstören“  und „Pseudo-Werte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden“.

Dagegen demonstrieren JuSos und JuLis, Grüne Jugend und Junge Union gemeinsam, am Ende ihrer Demo vorm Bochumer Rathaus ein Lied, das alle kennen, „Ein bisschen Frieden“, Nicoles Siegessong beim Eurovision Song Contest von vor 40 Jahren, jetzt frisch interpretiert.

In Frankfurt bringt Pulse of Europe einige Tausend auf die Straße, um gegen Putins Krieg zu protestieren, ihnen spielen sie „Insieme“ vor, den ESC-Gewinnersong von 1990 („unite, unite, Europe“). Und während die Ukrainer für Europas Freiheit sterben, läuft Udo Lindenbergs „Wozu sind Kriege da?“, die Frage stammt aus 1981.

In Berlin, wo Hunderttausende gegen Putins Überfall auf die Ukraine demonstrieren, singen sie „Imagine“ und „Sag mir, wo die Blumen sind …“. Der Song von John Lennon ist 51 Jahre alt, der von Pete Seeger 67 Jahre, es ist der Punkt:

Der Pop, der gegen Putin ins Feld geführt wird, ist so alt wie die Waffen, mit denen Putin seinen Krieg gegen den Pop führt. Eine ästhetische Gebrechlichkeit, die augenblicklich in die Knochen fährt. Verrentetes Material, das einen Ausdruck finden soll für das, was alle Welt gerade als „Epochenwende“ erfährt, als „Bruch“ und eine „andere Welt“, in die man sich nicht  –  wie einmal vom Pop versprochen  –  hineingeträumt hat, sondern in der man „aufgewacht“ sei.

Und in dieser anderen Welt lassen wir Popsongs antreten, die im selben Pensionsalter sind wie Putin? Um sie ihm kampflustig entgegen zu schallen?

Furchtbar vertraut

Wenn das die soft power des Westens ist, hat sie verloren, bevor Putin verloren haben wird. Was verloren? Ihre Selbstgewissheit. Den Glauben an die ureigene Kraft der Popkultur, den man selber von Kind auf geteilt hat, die Bilder und Träume und Phantasien von einer anderen Welt, in der man selber wer anders sein könnte oder als derselbe ganz anders. Pop hieß immer, was Putin hasst, nämlich sich selber zu zersetzen und von innen heraus anders zusammen zu setzen …

Jetzt macht einem die Ästhetik der Demos, die gegen Putin demonstrieren, schlagartig bewusst, dass es Putin ist, der den Pop rettet, weil er es ist, der einem die dekonstruierende Kraft des Pop überhaupt noch attestiert. Keine schöne Einsicht, sie ist anders als die von 9/11, der Schock jetzt frisst sich tiefer ein:

Damals ließ sich in der Inszenierung der brennenden Türme, dem Live-Erleben des Terrors eine Dramaturgie erkennen, die der westlichen Pop-Ästhetik entsprach, sie ließ sich weltweit entziffern. Al-Qaida hatte den Pop des Westens gegen den Westen gerichtet, dieser Terror war, so dämlich es klingt, ein kommunikativer Akt. Das ist das wahre Moment noch in der völlig verdrehten Deutung, die Karlheinz Stockhausen, der eigentlich vorausdenkende Komponist, dem Massenmord an 9/11 damals spendierte: Es sei „das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat“.

2001-09 WTC_smoking_on_9-11 by Michael Foran CC BY-SA 2.0

Anschließend der Terror des IS und seine Bilderwelt, auch sie war pop-ästhetisch durchgeschult. Die Pick-Up-Kohorten, die wie in “Mad Max” durch Wüsten jagen, die Gangsta-Rapper-Posen eines Deso Dogg aus SO 36, erschütternde Caspar Favid Friedrich-Zitate und eine Menge Pulp-Fiction-Coolness: Alles ließ sich einflechten in den vertrauten Vorstellungsraum, alles schien lesbar, darum ansprechbar zu sein, die Botschaft wurde zugestellt.

Putins Terror adressiert den Westen nicht einmal mehr. Die Bilder, die er jetzt in die Welt setzt, lassen sich mit keinem Kunstwerk assoziieren, sie fallen hinter alles zurück, was pop-kulturell anschlussfähig wäre, er produziert die totale De-Attraktion. Nirgends Freiwillige, die zu Putins Fahnen eilen, weltweit starren wir ungläubig auf unsere Bildschirme, nicht weil wir unseren Augen nicht trauten wie an 9/11, sondern weil alles so furchtbar vertraut erscheint und ordinär, aufdringlich wie eine Wochenschau von 1944, die Ego-Demos von Putin so billig inszeniert wie in einem Trashfilm von Russ Meyer.

In solchem Schwulst des Kreml wird selbst die Klassik, die ja dem Schwülstigen eher selten abgeneigt ist, sich nicht mehr in Szene setzen wollen. Während der Pop-Kultur, nachdem sie so lange Jahre aus- und eingegangen ist in Putins Reich, nur noch bleibt, sich stumm vor Pussy Riot zu verbeugen.

„Dann kann’s ein Gedicht sein“

Auf ihre Weise stumm, nämlich beredt, ist Claudia Roth. Die Bundesbeauftragte für Kultur hatte wenige Tage, bevor Putin seinen Angriffsbefehl gab, an der Münchner Sicherheitskonferenz teilgenommen, um Kunst und Kultur passgenau einzuordnen in das Programm, das auf Putins Bedrohungsszenario reagiere, Roths Maxime: „Kulturpolitik ist Sicherheitspolitik.“ Im DLF erklärte die ur-grüne Politikerin:

„Kunst und Kultur ist immer politisch. Es gibt viele Situationen, wo Diplomatie einfach gar nicht mehr funktioniert, wo es keine Gespräche mehr gibt, wo alles schweigt. Aber dann kann’s ein Lied sein, dann kann’s ein Theaterstück sein, dann kann’s ein Konzert sein, dann kann’s ein Buch sein, dann kann’s ein Gedicht sein, das Türen wieder aufmacht. Denn Kunst und Kultur hat keine Grenzen, kennt keine Grenzen, und da, wo Dialog gar nicht mehr möglich ist, da können über Kunst und Kultur Türen wieder geöffnet werden … Es braucht diese künstlerische Diplomatie.“

Kultur als Bunkerknacker fürs diplomatische Corps  –  eine dramatische Idee, ein paar Tage später erweist sie sich als rettungslos romantisch, jetzt kann‘s ein Lied sein, nämlich das russische, das der Eurovision Songcontest rauswirft aus seinem Wettbewerb. Kann‘s ein Dirigent sein, Valery Gergiev, der vor die Tür gesetzt wird. Kann’s eine Opernsängerin sein, Anna Netrebko, die alle ihre Verträge verliert, und können es Apple sein und Levis, McDonalds und Microsoft, Ikea und Obi, H&M und Mercedes, Nick Cave und Iggy Pop, Franz Ferdinand und Thomas Anders, die sich aus Russland zurückziehen.

„Seid umschlungen, Millionen“

Die Bilanz dieses immensen Ideentransfers, den alle über Jahre geleistet haben, ist übersichtlich: Drei Jahrzehnte haben entweder gereicht, um Putins Bunker zu bauen oder haben nicht gereicht, um ihn zu knacken. 2010, zehn Jahre nach Putins Machtübernahme, schrieb Frédéric Martel ein „Buch über die Geopolitik der Kultur“ und die „Globalisierung des Entertainments“, Titel: „Mainstream“. Der französische Soziologe und Medienforscher hatte 1250 Interviews in 30 Ländern geführt, um die Wege nachzuzeichnen, auf denen „Inhaltsindustrien“ arbeiten. Die gängige These, es gäbe einen US-amerikanischen „Kulturimperialismus‘“, sah er nicht bestätigt, stattdessen zeichnete er eine multipolare Weltordnung der Sinnproduktion  –  Mumbai, Shangai, Dubai, Miami, Beirut, Singapur (…)  –  alles in ständiger Bewegung, Schwellenländer tauchen ab und wieder auf, Russland allerdings nur in einem Nebensatz.

Die Attraktion der Putin-Welt ist seit Langem übersichtlich. Etwas zu produzieren, was alle mögen, und es so zu produzieren, dass es tatsächlich attraktiv werden könnte für möglichst viele, sei nunmal „extrem schwierig“, so Martel. Weiterhin seien die USA Marktführer im globalen Wertetransfer, seien dies aber deshalb, weil eine vitale Einwanderungsgesellschaft. Weshalb sie beides könnten, sowohl Mainstream produzieren als auch Mainstream in Nischenprodukte umformen und regional anpassen.

Marilyn Monroe visits American GIs in Korea, 1954 by Alfred Zirkel CC BY-SA 4.0

In Europa dagegen, so Martel, gingen die Kulturexporte seit Jahren beständig zurück, was nicht zuletzt damit zu tun habe, „dass die europäische Definition von Kultur  –  historisch, national, oft elitär  –  nicht in das globale und digitale Zeitalter passt. (…) Europäische Kultur ist ein Nischenprodukt für wichtige Marktsegmente, aber sie ist nicht mehr Kultur für die Masse. Die Europäer sind vielleicht noch führend bei Bildhauerei, klassischer Musik, postmodernem Tanz und Avantgarde-Poesie, aber im internationalen Kulturgeschäft zählt das gegenüber Blockbustern, Bestsellern und Hits nicht viel.“

Ob ausgerechnet ein postmoderner Tanz aus Deutschland vernagelte Türen im Kreml öffnen könnte, wie Claudia Roth erhofft? In dem Moment, in dem offensichtlich wird, dass sich die gesamte westliche Kultur an Putins Bunker die Zähne ausgebissen hat, soll ein deutsches Avantgarde-Gedicht Zähne zeigen können? Kulturpolitik war immer schon 1/2 großspurig 1/2 ambitioniert, es sind Millionen, die sich  –  Seid umschlungen –  nicht umschlingen lassen.[1]

Wenn es aber als Sicherheitspolitik gelten soll, so zu tun, als täten sie es doch, dann ist dies Voraussetzung dafür gewesen, die Ukraine zu überfallen. Der Westen hat sich an Putins Russland so vertäuscht wie Putin an der Ukraine, alle sahen Friends & Likes und wedelnde Fähnchen. Ein Desaster. Pop beschämt, Klassik blamiert, Kulturpolitik brüskiert.

Es gibt gerade nicht mehr viel zu tun für die Kultur: Das Spendensammeln für die Ukraine lässt sich kurzweiliger gestalten, auch kann man sich schon mal üben dafür, Truppen im Feld zu betreuen. Ansonsten bleibt nur le pop pour le pop, weitermachen als wäre nichts geschehen. Es ist das Gegenteil von allem, was ungefähr seit Woodstock läuft, in dieser Situation wäre es der Versuch einzugestehen, dass man nichts bewirken kann, gleichzeitig aber festzuhalten an der Idee, von der zumindest Putin denkt, sie zersetze alte Werte und etabliere „Pseudo-Werte“, die „gegen die menschliche Natur selbst gerichtet“ seien.

Wenn sowas von einem Massenmörder kommt, der sich selber als Naturbursche in Szene setzt, kann man es nur als Kompliment begreifen, als höchstmögliches. Und die Zeit nutzen, die bleibt, das Arsenal mit allem aufzufüllen, was Leuten wie Putin als Pseudo-Wert gilt.


[1] Die „Rettung von Tirannenketten“, wie es in der letzten Strophe der Ode „An die Freude“ heißt, hatte Schiller selber wieder rausgestrichen, so weit hielt sein Vertrauen in die Kraft der Künste nicht durch.