Israel boykottieren? Anstelle von Russland?
Weltkirchenrat tagt in Karlsruhe, es wird heikel
Dass Krieg Frieden sei, Terror Freiheit und Putin gerecht – erst waren es Leute wie Sergei Lawrow, Putins Außenminister, die das erzählten, dann Putin-Versteher links mittig rechts, jetzt laufen die Kirchen der Welt Gefahr, einzufallen in den Chor. Um am Ende vom Lied nicht etwa Russland zu boykottieren, lieber Israel. Vermutlich wird es nicht dahin kommen, das Problem ist, dass niemand weiß, warum eigentlich nicht.
Wenn der World Council of Churches, der Ökumenische Weltkirchenrat (ÖRK) sich Ende August zur Vollversammlung in Karlsruhe einfindet, wird er sein Déjà-vu erleben, wieder gibt es, was es schon einmal gab, eine Art Dreiecksbeziehung: zum Ersten leidet der ÖRK unter Bedeutungsverlust; dagegen hilft zweitens ein Aktionsprogramm, das gesellschaftliche Trends aufgreift; drittens steht in der Tür, die diesen Weg eröffnet, die Russisch-orthodoxe Kirche (ROK). Ein Blick auf diese Konstellation mit der Historikerin Hedwig Richter – sie hat mit ihrem Buch über „Demokratie. Eine deutsche Affäre“ kürzlich eine heftige Debatte ausgelöst – und mit den Religionswissenschaftlern Detlef Pollack, Gergely Rosta und Gregory L.- Freeze.
(I)
Beginnen wir mit der ROK, mit 100 Mio Mitgliedern die größte unter den 352 Mitgliedskirchen im ÖRK, vertreten durch Kyrill I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, der in den 90ern, als Boris Jelzin den postsowjetischen Staat verhökerte, mit steuerbefreiten Alkohol- und Tabakimporten zum mehrfachen Milliardär geworden ist, heute zählt Wladimir Gundjajew, dies sein bürgerlicher Name, zu Putins besten Freunden. Ein Oligarch, der als Geistlicher auftritt, ein „Sklave des Kremls“ – so hat Catherine Belton die heutige Stellung der Oligarchen im ZEIT-Interview skizziert – an der Spitze der Russisch-orthodoxen Kirche, das ist erstaunlich genug, noch erstaunlicher ist die Karriere dieser Kirche selbst, sie hat in den 90er Jahren ein beispielloses Comeback erlebt:
Über Jahrhunderte darauf geeicht, sich mit der weltlichen Macht zu arrangieren, wurde die Russsisch-orthodoxde Kirche mit dem Frontalangriff, den die sowjetischen Machthaber auf sie führten, fast aus der Welt hinaus geräumt, ihr Besitz enteignet, ihre Öffentlichkeit liquidiert, ihr Klerus hingerichtet: 1941 hat sie „so gut wie aufgehört zu existieren“, Hunderttausende Gläubige waren dem Terror zum Opfer gefallen, von 200 Bischöfen „waren alle bis auf vier erschossen oder in Arbeitslager verschleppt“, so Gregory L. Freeze.
Märchenhafter Aufschwung
Es war der Kampf gegen Nazi-Deutschland, der Stalin dazu nötigte, seinen anti-kirchlichen Kurs zu revidieren: 1948 gab es wieder mehr als 14 000 Kirchen in der UdSSR, von denen dann allerdings etwa die Hälfte dem neuerlich harten Kurs unter Nikita Chruschtschow zum Opfer fiel; etwas maßvoller, aber weiterhin brutal die Repression ab Mitte der 60er Jahre. Anfang der 90er, schreiben Detlef Pollack und Gergely Rosta, seien „die religiösen Ressourcen nahezu ausgebrannt“ gewesen – und dann, „fast von heute auf morgen“, ein märchenhafter Aufschwung, die „religiöse Identifikation“ mit der ROK nimmt rasant zu, das institutionelle Wachstum der Kirche steigt auf „über 300 Prozent“, so Freeze, der dafür eine Erklärung findet, die der von Pollack/Rosta entgegensteht, Freeze schreibt:
„Sieben Jahrzehnte Sowjetherrschaft konnten die Volksorthodoxie nicht ausrotten“, in Russland habe sich bereits zur Zeit der Zaren ein „Glaube ohne Kirchenbindung (believing without belonging)“ herausgebildet, eine „‘alternative‘, außerkirchliche Orthodoxie“, die sich ohne und gegen die offizielle behauptet habe. Diese Tradition sei heute die „Grundlage für eine entkirchlichte religiöse Renaissance im postsowjetischen Russland“ und sei ebenso Grundlage der „wachsenden Kritik an der Kirche, an dem Klerus und dem Patriarchen persönlich“, was wiederum die ROK dazu gebracht habe, „das Putin-Regime noch intensiver (…) zu umwerben“.
Die Deutung hat Freeze 2013 formuliert, das Schöne an ihr ist, sie lässt darauf hoffen, dass es auch heute einen inner-russischen Widerstand geben könnte, einen, der sich womöglich auf der Vollversammlung des Weltkirchenrats artikuliert (für den ÖRK wäre auch das ein Déjà-vu, dazu später). Detlef Pollack und Gergely Rosta folgen Freezes Deutung nicht, 2022 stellen sie in ihrem „Religion in der Moderne“ fest [1], dass sich für den sagenhaften Aufschwung, den die ROK genommen hat, keiner der Gründe, die man dafür erwarten könnte, empirisch verfestigen lässt – untergründig tradierte Volksreligiosität? familiäre Sozialisation? kirchliche Kommunikationskampagnen? Nichts, was mit Zahlen belegbar wäre, also führen Pollack/Rosta die Renaissance der Religion in Russland auf ein Nichts zurück – ein „Identifikationsvakuum“:
Die orthodoxe Religion sei zur „Ersatzideologie“ geworden, das ihre Deutung. Sich mit der orthodoxen Religion zu identifizieren, „kostet nicht viel“, zwinge zu nichts und lasse sich mit „allen Formen von Magie, Astrologie, Okkultismus und Mystik“ kombinieren. Auf diese Weise, schreiben sie, habe die orthodoxe Kirche den Glauben an den Sozialismus ersetzt, der seinerseits, das sei hier hinzugefügt, alle Formen von Magie und Okkultismus so konserviert hat wie Lenins Leichnam im Mausoleum.
Die Funktion, die dieser Art Neo-Orthodoxie zugefallen sei: „Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins“, genauer: Stärkung durch Inszenierung. 1992, der russische Stolz liegt brach, beauftragt Boris Jelzin die Entwicklung einer „Kulturologie“, „einer Art kulturalistischer, gegen den marxistischen Materialismus entworfener Weltphilosophie als Pflichtfach an Universitäten und Hochschulen“, so Pollack/Rosta. Von hier ist es ein kleiner Schritt hinüber ins Religiöse, die Identifikation mit der russischen Kultur – 2017 hielten 69 % der Russen sie „gegenüber anderen für überlegen“ – steigt parallel zu der mit einer orthodoxen Kirche, die geübt ist darin, etwas, das man nicht sieht, in Szene zu setzen, in diesem Fall eine Weltmacht, die keine mehr ist. Die ROK wird zum „Repräsentanten nationaler Identität“, so Pollack/Rosta, Nationalstolz und Religion kippen ineinander. 2012 geben vier von fünf befragten Russen an, alle Russen, ob getauft oder nicht, seien orthodox. Und vice versa, 2017 möchten 72 % der Russen ihr Land dazu verpflichten, „die orthodoxen Christen außerhalb der eigenen Grenzen zu schützen“.
„Kulturelle Selbstbehauptung“
Pollack/Rosta sprechen von einem „religiös aufgeladenen nationalistischen Überlegenheitsanspruch mit starken Abgrenzungstendenzen“, nirgendwo sonst in Europa fühle man sich – es ist empirisch unterlegt – von anderen Kulturen derart massiv bedroht wie in Russland: „Als würde eine sich angegriffen fühlende Nation im Modus der kulturellen Selbstbehauptung agieren.“
Liegt auf der Hand, dass eine derart sakralisierte „Kulturologie“, wie Pollack/Rosta sie skizzieren, ihren Widerhall findet nicht zuletzt im Westen: „Kulturelle Selbstbehauptung“ ist Konterpart zur cultural appropriation, der kulturellen Aneignung, die so verboten gehöre wie die Eroberung fremder Gebiete – etwa so wird dies ja seit einiger Zeit in einem Kulturmilieu gesehen, das sich rund um BDS herum versammelt, die antisemitische Hetzkampagne. Ein kulturalistisches Denken, das sich selber als „Weltoffenheit“ inszeniert. Mit Blick auf die Documenta hat der Kunstphilosoph Bazon Brock vom „Schafstallgeblöke der kulturellen Identitäten“ gesprochen und eine gerade Gedankenlinie gezogen von der Kassler Documenta hinüber zu Putin und „all diesen totalitär regierten fundamentalistischen Regimen“, die das Individuum im Namen von identitären Kollektiven liquidieren.
Tatsächlich hat Putin den Ball, den ihm das kulturalistische Denken zuspielt, aufgenommen, er präsentiert sich neuerdings als „postkolonialer Vordenker der Antiglobalisierungsbewegung“, so die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger in der NZZ: Putin entwerfe sich als Avantgardist einer „internationalen postkolonialen Bewegung, die eine ‚harmonischere, gerechtere, sozialere und sicherere Weltordnung‘ mit weniger ‚Rassismus und Neokolonialismus‘ verfolge“. Was klingt wie eine Predigt vorm Weltkirchenrat.
(II)
Von Kassel nach Karlsruhe. Ab Ende August bis 8. September wird sich der Ökumenische Weltkirchenrat (ÖRK) dort zu seiner Vollversammlung einfinden, 800 Delegierte aus den Kirchen dieser Welt werden, wie es aussieht, auf eine Delegation der Russisch-orthodoxen Kirche treffen, die dem ÖRK 1961 beigetreten ist zusammen mit 18 anderen Kirchen, den sog. „jungen“, die sich im Zuge der Dekolonialisierung gegründet hatten. Damals hat sich eine Konstellation entwickelt, die jetzt wie nachgestellt wirkt, Hedwig Richter – ihr Aufsatz in „Geschichte und Gesellschaft“ stammt aus 2010 – hat Aufstieg und Fall dieser Konstellation beschrieben.
Zunächst ihr Blick in die 60er: postmaterialistische Aufbruchsstimmung in den westlichen Gesellschaften, deren Linksruck setzt die West-Kirchen, hier vor allem die protestantischen unter Druck; im Weltkirchenrat mit seinen „jungen Kirchen“ entsteht ein Bewusstsein für postkoloniale Weltpolitik; in den sowjetisch regierten Ländern entwickelt sich eine strategisch ausgerichtete Weltkirchenpolitik, Ausgangspunkt: „friedliche Koexistenz der Systeme“.
Gretchenfrage nach Gewalt
Entscheidende Drehscheibe damals: die Kirchen der DDR. Deren langjährige Repräsentantin im Weltkirchenrat war die, so Richter, „systemkonforme ostdeutsche Ökumenikerin Elisabeth Adler“, sie brachte den Konsens auf den Punkt, den dieses Setting gebar: „‘Das Heil kommt nicht vom Westen.‘“
Konkret: „Vertreter der Entwicklungsländer und der staatsozialistischen Länder“, schreibt Richter, „kritisierten (…) die freiheitlichen Menschenrechte als bürgerlich-individualistisch“ und banden sie ans Kollektiv, eines, das sich befreie oder zu befreien habe oder zu befreien sei. Der Effekt ist klar, die Verletzung individueller Menschenrechte in den je eigenen Ländern – selbst das Recht auf Religionsfreiheit – ist der Debatte entzogen, auf der Vollversammlung 1975 in Nairobi sind es zwei russisch-orthodoxe Dissidenten – ein Priester, Gleb Jakunin, und der Physiker Lev Regelson – , die massive Menschenrechtsverletzungen und drastische Christenverfolgung in der Sowjetunion überhaupt noch auf die Tagesordnung bringen. Sie schaffen es auf subversive Weise, zurück in Russland müssen sie bitter dafür bezahlen. Während der ÖRK, so formuliert es Richter, weiterhin „deutlich in Übereinstimmung mit der linksintellektuellen Elite“ agiert, einer Kultur-Elite, die sich im Westen ausgebildet hat: Der ÖRK sucht, den Anschluss zu halten an einen gesellschaftlichen Trend, den er als maßgeblich prognostiziert und den er, so Richter, „zeremoniell“ zur Geltung bringen will.[2]
Wie? Mit einem Aktionsprogramm, das der ÖRK 1969 „im Eiltempo“ auflegt, dem Programme to Combat Racism (PCR), das Antirassismus-Programm wird zum Premiumprodukt des ÖRK: Heftig diskutiert weltweit, trägt es emanzipatorisches Denken tatsächlich aus den Metropolen in die Dörfer hinaus und flößt einen revolutionsfröhlichen Politdiskurs tief in die politischen Mitten hinein. Mit einem Mal sind es kirchliche Kreise, unverdächtig wie die der Evangelischen Frauenhilfe, die zu Mariannen des antirassistischen Aufstands werden. Kirche identifiziert sich mit Antirassismus und wird mit ihm identifiziert und der Weltkirchenrat zum Vorbild einer NGO, die es schafft, gesellschaftlich durchzudringen.
Auch mit der Gretchenfrage nach Gewalt: Im Haushalt des ÖRK, von den Mitgliedskirchen befüttert, wird ein sog. „Sonderfonds“ eingerichtet, es ist dieser finanziell unbedeutende, politisch hoch brisante Haushaltsansatz, an dem sich die Geister scheiden, sie tun es inner- wie außerkirchlich und auch politisch querbeet: Der „Sonderfonds“ finanziert auch solche „Projekte“ mit, die auf Terror setzen und hier wohl auch – der Fonds wird intransparent verwaltet – die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO). Schwerpunkt des Antirassismus-Programms aber eindeutig das südliche Afrika, am Ende haben die Weltkirchen ihren Anteil daran, dass die dortigen Regime zusammenbrechen und Millionen Menschen die Exodus-Erfahrung machen, die jüdische Erfahrung, die besagt, dass Befreiung nicht dasselbe ist wie Freiheit, Befreiung führt für lange Zeit durch eine Wüste.
Eine Erfahrung, die der Weltkirchenrat anschließend ebenfalls macht, fast sieht es so aus, als gehe es mit ihm so geradlinig bergab wie mit dem ganzen Ostblock. Dem Erfolg seines Antirassismus-Programms folgen ein „Konziliarer Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ – 1983 in Vancouver gestartet, das Programm war so zäh erfolgreich wie es sein Titel ankündigt – und dann eine Serie von Pleiten: Die Dekade „Kirchen in Solidarität mit den Frauen“, 1988 ausgerufen, klappert schon böse hinterher, in den 90ern – 1993 nehmen Nelson Mandela und Frederik Willem de Klerk gemeinsam den Friedensnobelpreis entgegen – scheitert das ökumenische „Arbeitsvorhaben“, den antirassistischen Kampf zurückzutragen in die Metropolen: Angesichts der Flut rassistischer Morde in der Bundesrepublik – Mord an Amadeu Antonio 1990, Pogrome in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992, Anschläge in Mölln 1992, Solingen 1993 (…) – drängt der Weltkirchenrat die deutschen Kirchen dahin, das Programme to Combat Racism auf hiesige Verhältnisse umzulegen. In Berlin wird ein 2-Personen-Projekt – eine der beiden Personen der Autor dieses Artikels – eingerichtet und nach wenigen Jahren wieder abgeräumt, zu groß der innerdeutsche Widerstand (etwa von der o.e. Elisabeth Adler), der sich formiert, wenn Antisemitismus einmal nicht unter Rassismus verrechnet und Rassismus einmal nicht unter „Fremdenfeindlichkeit“ kleingerechnet wird. Als der ÖRK kurz darauf eine „Dekade zur Überwindung von Gewalt“ ausruft, die begrifflich so präzise aufgestellt ist wie alles und nichts, nimmt kaum noch wer Notiz.
(III)
Ein böser Relevanzverlust, den der Weltkirchenrat verzeichnet, er wirkt entrückt. Wenn es stimmt, was Hedwig Richter schreibt – „dass Institutionen weniger nach Effizienz streben als vielmehr danach, Legitimität zu erzeugen, indem sie Übereinstimmung mit gesellschaftlich akzeptierten Ideen suchen“ – , dann ist die Frage, wie sich das auf der Vollversammlung der Weltkirchen in Karlsruhe niederschlagen wird, Stand jetzt:
Das Thema Israel/Palästina wird „äußerst präsent“ sein, das hat Generalsekretär Iona Sauca bereits angekündigt, das Thema Ukraine/Russland wird „äußerst präsent“ sein und der Weltkirchenrat wäre es gern wieder. Liegt es nahe, auf das Modell zurückzugreifen, das sich bewährt hat wie kein anderes? Ein „Aktionsprogramm“, das sich auf ein Land konzentrierte und auf ein Thema, das zu bearbeiten ein Sonderfonds genügte, der sich dieses Mal der Form nach gewaltfrei gäbe? Ein Programm, auf das sich alle einigen könnten, weil es den eigenen Erfolg beerbte und Anschluss hielte an das, was in Kunst und Kultur als très chic gilt und ebenso in vielen angelsächsischen Kirchen und wohl auch, glaubt man der Documenta, in vielen Kirchen des globalen Südens … also warum nicht BDS? Zumindest ein bisschen?
Dass es dahin kommt, ist recht wahrscheinlich. Und dann – falls es nicht doch eine unabhängig denkende ROK-Delegation nach Karlsruhe schafft, im Juli haben die ROK-Delegierten tatsächlich eine Erklärung mitgetragen, die Putins Krieg verurteilt hat – falls es stattdessen Putins Pudel sind, die in Karlsruhe auflaufen, werden sie, wenn sie schlau sind, mit dem „Kairos“-Dokument wedeln, jenem Papier, das der ÖRK zu einer weltweiten „Kairos-Kampagne“ aufgeblasen hat, um sich selber als Kampagnen-NGO zurückzumelden: „Kairos“ – hier mehr dazu auf ruhrbarone.de – ist eine verheiligte Version von BDS. Und nichts, das leichter wäre für Putins Pudel, als in die „Kairos“-Theologie einzustimmen, es klänge so, wie Putin selber bereits klingt, der sich als Postkolonialist gibt, es klänge so:
Wir, die Russen, von Gott in unser heiliges Land gestellt vor undenklichen Zeiten, heute von Kolonisierung bedroht durch eine westliche Macht, die unsere kulturelle Identität unterhöhlt und unser Land besetzt und tut, was sich nur mit der Entrechtung der Juden durch das Nazi-Regime vergleichen lässt … usw., Punkt für Punkt lässt sich die „Kairos“-Theologie auf Putins Ideologie umlegen. Ein giftiger Cocktail, den fünf deutsche Landeskirchen abgeschmeckt haben, indem sie kürzlich erklärten, eine „Wiederbefassung“ mit dieser Theologie legitimiere zwar keinen Total-, wohl aber einen Teil-Boykott. Von wem? Von Israel. Ein bisschen BDS.
Frage also, welche Form von Boykott begründet dieselbe Theologie, wenn die Russisch-orthodoxe Kirche sie adaptiert – einen Total- oder Teil-Boykott? Der Ukraine oder der Ukraine?
Ein bisschen Putin, es liefe wie von selbst auf jenen Kompromiss hinaus, den die fünf deutschen Landeskirchen für Israel-/Palästina vorformuliert haben mit dem Ziel, noch üblere Beschlüsse zu verhindern, wörtlich: „Es ist Zeit für ein Nein ohne jedes Ja zu allen Gewalttaten und Rechtsbeugungen auf allen Seiten des Konfliktes.“
Und da wäre es dann, das Nein ohne jedes Ja zu allen Waffenlieferungen an die Ukraine, das Nein zu dem Recht der Ukrainer, sich selber zu verteidigen, das Ja ohne jedes Nein zu Putins Triumph und das Ja mit nur ein bisschen Nein dazu, Israel zu boykottieren, soviel BDS muss sein.
Wie gesagt, vermutlich wird es nicht dahin kommen, und am Ende wird niemand wissen, warum eigentlich nicht.
ANMERKUNGEN
[1] „Religion in der Moderne“, hrsg von der WWU Münster und 2022 in aktualisierter Auflage erschienen, räumt mit zwei „Meistererzählungen“ auf, erstens mit der sog. Säkularisierungsthese, dem Glauben daran, dass die Moderne aus sich selber heraus ein religiöses Denken zum Verschwinden bringen würde, dann aber ebenso mit der gegenläufigen These, die behauptet, Religion kehrte auf breiter Flur zurück: Pollack/Rosta eröffnen, empirisch gestützt, ein Panorama an Szenen, in der einen stirbt Religion ab, in der anderen blüht sie auf, hier ist sie elitär abgeschirmt, dort volkskulturell verhaftet, mancherorts „freier Fall“, andernorts „Hochburg“ usw.
[2] Richter greift hier auf das Konzept des Neo-Institutionalismus zurück, einer Theorie, die davon ausgeht, „dass Institutionen weniger nach Effizienz streben, als vielmehr danach, Legitimität zu erzeugen, indem sie Übereinstimmung mit gesellschaftlich akzeptierten Ideen suchen.“
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Hier Teil (I) dieses Vorberichts zur Vollversammlung des Weltkirchenrats, der zuerst auf ruhrbarone.de erschienen ist: „Vergleichstest BDS: Erst Documenta, demnächst Weltkirchenrat“
Und hier Teil (II) „BDS ins Messer laufen?“