Nie wieder Opfer

Isaak, Jesus und Pelops, Tantalos' Sohn

Kreuz by (c) Theo Oberheitmann

Die meiste Zeit ihres Daseins auf Erden haben Menschen Menschen geopfert und sie den Göttern dargebracht zum Verzehr. In der verqueren Hoffnung, die Götter könnten satt sein, bevor sie einen selber verschlingen. Dann lieber die eigenen Kinder. Menschenopfer gab es überall auf Erden, die Erinnerung an diesen Deal, dem wir uns heute verdanken, ist ein Menschheitserbe, wir schleifen es mit, drei Beispiele zum Karfreitag: Isaak, Jesus und Pelops, Tantalos‘ Sohn.

“Wir sind Nachkommen Isaaks, der auf dem Altar gebunden wurde …” heißt es im jüdischen Morgengebet. Nachkommen des Kindes, das nicht geopfert wurde. Der Erzählung in 1 Mose 22 zufolge sorgt Gott selber dafür, dass Eltern ihre Kinder, die sie doch lieben, zum irdischen Leben anleiten mögen und nicht zum ewigen Sterben. Göttern zu opfern ist dasselbe wie Wiederholungszwang, der Hunger eines Gottes kann immer nur vorübergehend gestillt werden. Die Juden haben sich diesem Götter-Opfer-Karussel widersetzt, sie haben das Menschenopfer  –  ein Weltkulturerbe  –  abgeschafft, seitdem gibt es ein Opferverbot in dieser Welt: “Du sollst auch nicht eins deiner Kinder geben, dass es dem Moloch geopfert werde, damit du nicht entheiligst den Namen deines Gottes.”

Das Verbot galt für Juden, was wir von Jesus wissen, liest sich so, als habe er versucht, das jüdische Gebot  –  liebe deine Kinder und schlachte sie nicht, wie andere es tun  –  auch für die anderen, für Nicht-Juden plausibel zu machen: Die Evangelien erzählen die Geschichte seines Leidens und Sterbens erkennbar parallel zu der Geschichte Isaaks. Und dann bemüht sich Paulus, ein jüdischer Gelehrter, die Ermordung Jesu durch die römische Staatsmacht als ultimativ letztes Opfer zu verstehen, das einem Gott  –  er throne im Himmel oder in Rom –  dargebracht werden müsste. So befremdlich diese Sühnopfer-Theologie heute ist  –  dass Jesu alle unsere Sünden auf sich genommen und Gott versöhnt habe mit seinem Leiden und Tod  – , Kern dieses Gedankens ist der Impuls, alle Welt vom Opferzwang zu befreien: Jesu Tod sollte für alle Zeit und alle Welt als das letzte aller Menschenopfer begriffen werden, es sollte befreien von jener Sünde, die wie ein Menschheitserbe auf uns lastet.

Einen anderen Weg suchten die Griechen, um dem Opferzwang zu entkommen, sie verpackten das Menschheitserbe in Dramen, die sie in Himmel auslagerten. So wie die Geschichte von Tantalos: Der, ein „Sterblicher“, vorgestellt als Trickbetrüger, der es dennoch oder eben deshalb zum König gebracht hat, er serviert den Göttern, als sie bei ihm einkehren, ein stattliches Mahl, für das er Pelops, seinen jüngsten Sohn, schlachten und braten und auftischen lässt. Die Götter verzehren einen Teil von Pelops Schulter, den Rest verweigern sie, verkochen die aufgetischten Leichenteile und ziehen Pelops wie neugeboren aus ihrem Kochkessel hervor. Keine Auferstehung, eine Auferkochung, wenn man so will.  

Isaak, Jesus, Pelops  –  man mag die griechische Version als lässig empfinden und bühnenreif, sie ist es so wenig, wie es die biblischen sind. Im Jahreskalender hat der Karfreitag einen tieferen Sinn als nur den christlichen, er erinnert daran, dass wir, wie immer wir uns selber erschaffen mögen, auf Hekatomben von Menschenopfern stehen.


Zum Foto | Mit Religion habe er nicht viel zu tun gehabt, hat Theo Oberheitmann über sich gesagt. Allerdings hatte er – ganz wie der römische Hauptmann im Markus-Evangelium – den Blick fürs Kreuz: „Überall auf den Friedhöfen der Bretagne und Normandie entdecke ich Kruzifixe in den unterschiedlichsten Stadien des Zerfalls, liebevoll auf dem Grab platziert und dekoriert.“

Die Bilder, die er davon gemacht hat, setzen die Ikonographie der Leiden Jesu fort. Traurig und schön, anstößig wie Blasphemie:

“Ein fehlender Kopf wird durch Blumen ersetzt. Wenn die Schrauben für die Befestigung durchgerostet sind, wird der Corpus mit Draht befestigt. Mich interessiert das Einswerden mit dem Untergrund, der stetige Verfall durch Korrosion, das Überwuchern mit Pflanzen bis zur fast totalen Auflösung von Kreuz und Corpus.”

Und dann, hier und da, ein paar frische Blumen. Als stemme die Trauer sich gegen den Verfall, gegen das Vergessen. Sie widerspricht dem Tod, dem puren Faktum, weil sie nicht aufhören kann zu lieben.

Im März 2020 ist Theo Oberheitmann gestorben. Er war Ehemann und Vater, Großvater und Fotograf, ein Tischler, wie Jesus Tischler war.