Die Kirche
Wie lässt sich nach 1945 – nach dem Vernichtungskrieg, nach Auschwitz – noch eine Kirche bauen?
Nicht, indem man sie wiederaufbaut, als sei nichts geschehen. Als sei Gott ungerührt geblieben und unverändert. Als sei Auschwitz ein Ausrutscher gewesen, die Nazi-Zeit ein Vogelschiss.
Die neue Christuskirche verdeutlicht, ohne die Vergangenheit zu leugnen, den Bruch mit ihr. Ihr Architekt: Dieter Oesterlen.
Den Turm – Oesterlen nannte ihn eine “Reliquie in der Wüste der Geschichtslosigkeit” – ließ er wie einen Speicher der Geschichte stehen und setzte das neue Kirchenschiff ab vom Turm. Zwei selbstständige Bauten, die sich maßstäblich aufeinander beziehen: Das Ensemble setzt sich auseinander.
Im scharfen Kontrast zum Turm und seiner bildlichen Macht ist die neue Christuskirche bilderlos. Nirgends eine bildliche oder figürliche Darstellung, nichts, das einem vor Augen stellte, was man zu denken habe. Stattdessen reine Formensprache, ein Framing für das, was man sich selber vorstellen mag.
Dabei ist jederzeit bewusst: Dieser Raum ist ein Gottesdienstraum. Er gibt nichts vor, er weist nichts an, er leitet den Blick auf eine leere Wand, dreiflügelig wie ein Triptychon, davor das Kreuz, das Buch, die Kunst. Dieser Raum hält keine Antworten bereit, er lädt zum Fragen ein.
Eine Architektur der Freiheit. Auch deshalb ein Fremdkörper im Bild der Stadt. Dieter Oesterlen hat eine Gegenplatzierung geschaffen in “glücklichsten Proportionen”, wie Architekturkritiker urteilen:
Wolfgang-Jean Stock etwa zählt die Christuskirche mit großer Selbstverständlichkeit zu den 100 bedeutendsten Sakralneubauten Europas. Sehr entschieden auch George Kidder-Smith in seinem Standardwerk über die Sakralarchitektur Europas:
“One of the best of the new European churches.”
Bis ins Lexikon der Weltarchitektur hinein wird die “bildhafte Anschaulichkeit” dieser bilderlosen Kirche gerühmt. Eine Anschaulichkeit, bei der sich auch Egon Eiermann bedient hat, Architekt der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche: Eiermann kannte die im Bau befindliche Christuskirche, als er für Berlin eine formal ähnliche Lösung entwarf, auch dort das Auseinandersetzen von alt und neu im maßstäblichen Bezug.
Das Auseinandersetzen hat Sinn, solange es ein inhaltliches bleibt: Die Christuskirche erinnert daran, dass das zivilisierte Gewissen zusammengebrochen ist, dass es geschehen ist und wieder geschehen kann.