Navid Kermani

Von der Freiheit, zwischen Glauben und Nichtglauben zu unterscheiden

Navid Kermani, Hans Ehrenberg-Preis 2023 by Volker Wiciok

In einem Festakt in der Christuskirche Bochum hat die Evangelische Kirche am 31. Mai dem Kölner Schriftsteller und Essayisten Navid Kermani den protestantischen Hans Ehrenberg-Preis verliehen. „Man könnte meinen, kein anderer der bisherigen Preisträger ist in seiner Biografie auf den ersten Blick weiter von Hans Ehrenberg entfernt als Navid Kermani. Und kaum einer ist ihm näher – in seiner Einstellung, Orientierung und Haltung“, so Bundestagspräsident a.D. Norbert Lammert in seiner Laudatio auf „einen guten, lieben Freund.“

Kermani sei „ein frommer Mensch, der zugleich Aufklärer ist.“ Diese Aussage von Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung „hätte man ziemlich genauso auch über Hans Ehrenberg treffen können“, so Lammert. Beider Anliegen sei es, die Welt in ihrer Ambivalenz, ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Komplexität zu verstehen – „und es müsste eigentlich auch unser Anliegen sein.“

Annette Kurschus, Präses der westfälischen Landeskirche, die wie Navid Kermani selber in Siegen aufgewachsen ist, entwarf in ihrer Rede ein wechselseitiges Staunen. Einerseits bezog sie sich auf das – so der Titel des Buches – „ungläubige Staunen“ Kermanis über eine spezifisch christliche Liebe, die keinen Unterschied mache zwischen den Menschen, Christen seien hieran zu erkennen – und andererseits auf ihr eigenes Staunen darüber, dass Christen von außen tatsächlich so gesehen würden: „Ich will über Ihr Staunen staunen“, so Kurschus, „ich will es glauben und mich davon beflügeln und in die Verantwortung nehmen lassen. Ja, an der Liebe will ich erkannt werden!“

Von einem besonderen Baum erzählte sie, der – behängt mit den Porträts und Namen von jungen iranischen Frauen und Männern, die gegen das dortige Terror-Regime protestiert hatten und ermordet worden sind – in der Vorweihnachtszeit in einer westfälischen Stadt aufgestellt war. „Dieser Baum voller Gesichter und Namen ist mir in die Glieder gefahren”, so Kurschus: “Während wir ‘Christ ist geboren’ singen, erinnern Menschen aus dem Iran an ihre Landsleute, die inhaftiert und gefoltert, erschossen und brutal hingerichtet wurden.“ Eben darin aber erkenne sie, sagte die Präses, die zugleich Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland ist, was Christen eigentlich zu Weihnachten feierten: dass die Gewalt „um Gottes und der Menschen willen“ nicht das letzte Wort haben dürfe.

Navid Kermani mit dem Preis zu ehren, der Hans Ehrenberg erinnert, heiße, “die Kunst des dialogischen Denkens zu feiern. Eines mitfühlenden Denkens, jederzeit bereit, dem, der widerspricht, dasselbe Maß an Wahrheit zugute zu halten, das er für sich selber reklamiert, eben deshalb aber jederzeit bereit, gegenüber einem totalitären und fundamentalistischen Denken scharfe Grenzen zu ziehen”, so die Begründung der Findungskommission für die Ehrung Kermanis. Das Denken im Dialog, das den Widerspruch als kreativ empfinde, habe Navid Kermani mit Hans Ehrenberg gemein.

Im Gespräch mit Norbert Lammert und Prof. Dr. Traugott Jähnichen offenbarte Kermani, dass er sich durchaus schwer tue mit dem Wort ‚Dialog‘. Gefragt, welche Chancen und Herausforderungen er sehe, wenn Menschen unterschiedlicher religiöser Einstellungen miteinander in den Dialog treten, sagte Kermani: „Dialog impliziert immer, einer sei hier und der andere dort. Menschen haben oft viel mehr gemeinsam als sie trenne. Konflikte, so Kermani, entstünden aber gerade dort, „wo man sich am ähnlichsten ist.“

Keine Sorgen mache er sich über die religiösen Institutionen, seien es die des Islams, des Christentums oder des Judentums, so Kermani. „Diese Institutionen sind ja ohnehin zeitgebunden. Vielleicht liegt darin eine Chance, wenn Institutionen an Macht verlieren, dass Menschen noch viel mehr, viel genauer wissen, warum sie einer Religion angehören, weil es keine Selbstverständlichkeit mehr ist, es vielleicht sogar eine mutige Entscheidung ist.“

Sorgen bereite ihm etwas anderes, nämlich, dass das Wissen wegbreche, was Religion überhaupt ist. „Denn wenn kein Wissen mehr da ist von den biblischen Geschichten, von dem, was Religion überhaupt ist, von all dem, was unsere Kultur ausmacht – gerade die deutsche Kultur ist ja zutiefst durchdrungen von religiösen Motiven, von biblischen Motiven – dann nehmen wir künftigen Generationen die Freiheit.“ Denn zur Freiheit zu glauben gehöre auch, dass man überhaupt erstmal wisse, was Glauben ist. „Wenn man es nicht weiß, nehmen wir künftigen Generationen die Freiheit, zwischen Glauben und Nichtglauben zu unterscheiden. Diese Chance, es zu tun oder nicht zu tun, die sollten wir unseren künftigen Generationen schon bieten.“


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