Ich, Judas
Ben Becker by Fritz Brinckmann (c)
“Der letzte Liebeserweis: Judas aus Kerioth küsst seinen Herrn. Und er, Jesus von Nazareth, sagte zu ihm: ‘Mein Freund.’” Und dann starben beide am selben Tag, der eine verehrt, der andere verhasst. Ihre Geschichte aber ist eine gemeinsame: Judas ist nichts ohne Jesus, Jesus ist nichts ohne Judas. Ben Becker spielt “Ich, Judas” am Karsamstag, dem Tag, an dem sie beide verlassen waren von Gott und der Welt.
Der Name steht für Verrat, wer ihn trägt, trägt ein Kreuz: Judas war ein Jünger Jesu. Seit Jahrhunderten wird erzählt, dass er es gewesen sei, der Jesus mit einem Kuss verraten und ans Kreuz geliefert habe – war es so? Ben Becker wird zu Judas und arbeitet sich – eng am Text von Walter Jens entlang – in das hinein, was überliefert ist. Daraus wird mehr als eine Rolle, der Fall Judas wird neu aufgerollt: Könnte es sein, dass dieser eine Mensch den Sündenbock geben musste … für was? Für eine Sache, die aus dem Ruder gelaufen ist?
„Was war denn schon zu verraten“
fragt Judas uns, die wir uns nach und nach in ein Geschworenengericht versetzt fühlen,
„Jesus‘ Aufenthaltsort? Aber den kannten doch Tausende. Sein großes Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei? Aber das hat er doch selbst gesagt mitten unter den Leuten!“
Die Fragen werden mehr, die Zweifel nehmen zu. Beim letzten gemeinsamen Mahl am Abend vor beider Tod habe Jesus, so berichtet es die Bibel, seinen Jüngern erklärt:
“‘Einer von euch wird mich verraten: der, dem ich den Bissen eintauche und gebe.’ Und er tauchte den Bissen ein und gab ihn Judas.”
Die Frage drängt sich auf: Wer ist hier aktiv und wer passiv, wer Täter und wer Opfer? Und dann:
“Nach dem Bissen fuhr der Teufel in ihn.”
Ein Stück Brot, von dem so viele bis heute glauben, dass sich in ihm die Gegenwart Gottes verdichte, kann dieses Stück Brot zu einem Transponder des Teufels werden? Von Jesus persönlich gereicht?
Die Widersprüche – Ben Becker hält sich dicht an den Text von Walter Jens – gehen an die Substanz des Glaubens und an die Transsubstanziation. Sie greifen den Glauben an und jenes Dogma, das im Zentrum der katholischen Messe steht, aber auch im lutherischen Glauben eine unverrückbare Bedeutung hat.
Und nun? In den letzten zehn Jahren hat Ben Becker mehr als 250 000 Zuschauer und Zuhörer gefunden für seinen „Ich, Judas“. Es ist kein Bühnenstück, das er gibt, eher eine Selbstbefragung, eine Auseinandersetzung mit eigener Schuld, mit der eigenen Sehnsucht nach Versöhnung, der eigenen Ohnmacht, sich selber zu vergeben.
“Wir waren Vertraute“,
sagt Judas und
“(geht wieder auf die Zuschauer zu) Zum letzten Mal: ein bisschen Logik, wenn’s beliebt. Angenommen, ich hätte nein gesagt … gesetzt, ich hätte mich geweigert, wäre ich dann nicht – nur dann! – an Gott zum Verräter geworden? Bedenkt: Ohne Judas gibt es kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Kirche, ohne mich, den Überlieferer, keine Überlieferung der Botschaft, dass wir erlöst sind. Eine kleine Bewegung meines Kopfes, ein Schütteln statt eines Nickens, und Gottes Plan wäre … ein Nichts.”
Und dann schlagen die Zweifel über Judas zusammen:
“Niemand, Herr, hätte uns Juden verfolgt … Kein Progrom, kein Lager, kein Gas …”
„Ich, Judas“ ist das Plädoyer für einen Verdammten, ein existentielles Plädoyer für einen, der ist wie wir. Am Ende des Tages sind beide tot, der eine am Kreuz, der andere am Baum, beide erhöht. Ben Becker ist “Ich, Judas” an dem Tag, an dem die Geschichte selber spielt, und ist es an dem Ort, wo beides seinen Raum hat, der Glaube und der Zweifel.

Christuskirche Bochum, Szenenfoto aus “Ich, Judas” by Ayla Wessel (c)
TEXT
Amos Oz | Judas, Kapitel 47 (Suhrkamp Verlag)
Walter Jens | Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot (Radius-Verlag)
REGIE & INSZENIERUNG
Ben Becker
DRAMATURGIE
John von Düffel
ORGEL
Andreas Sieling
Eine Koproduktion von Ben Becker, Meistersinger und Christuskirche Bochum