Michael Degen
Lesung zum Tag der Befreiung
Einer der großen Schauspieler dieser Republik: Michael Degen (71) hat mit Bertolt Brecht und Ingmar Bergman auf der Bühne gearbeitet, mit Peter Zadek und George Tabori. Er hat mit Claude Chabrol gedreht und große Erfolge gefeiert mit populären Fernseh-Rollen: In “Diese Drombuschs” etwa war Degen der Familienvater, in “Klinik unter Palmen” hat er den Dr. Gregorius gespielt, und dieser Tage erst war er an der Seite von Alexandra Maria Lara in dem Dreiteiler “Der Wunschbaum” zu sehen.
Daneben kennt man seine elegante Spielweise aus Krimi-Serien wie “Tatort”, “Derrick” oder “Commissario Brunetti”. Seine enorme Popularität nutzt Degen immer wieder dazu, an die Nazi-Barbarei zu erinnern: Eine seiner ersten Fernsehrollen war die Rolle als Adolf Hitler in “Geheime Reichssache”, und unter Peter Zadek hat er die Hauptrolle in Sobols “Ghetto” gespielt – eine längst legendäre Inszenierung, von Degen zeitweise unter Polizeischutz absolviert: Neo-Nazis hatten seine Wohnung verwüstet.
Seit kurzem erst bekannt ist dagegen die Geschichte seiner Kindheit: Degens Vater wurde von den Nazis ermordet, seinem Bruder gelang die Ausreise nach Palästina, er selber musste – nachdem in die Jüdische Schule 1942 geschlossen wurde – als Leichenträger arbeiten und entging, gerade elf Jahre alt, der Deportation durch eine waghalsige Flucht.
Bis zu ihrer Befreiung durch sowjetische Truppen überlebten Degen und seine Mutter Anna im Berliner Untergrund, versteckt von Freunden und völlig Fremden. Zwei Jahre lang retteten sie sich von Tag zu Tag, überstanden Ausweiskontrollen, überlebten den Bombenhagel:
“Mutter betete und fluchte gleichzeitig”, erinnert sich der heute 71-jährige. “Sie betete auf hebräisch und fluchte auf deutsch.” Denn während die “Volksdeutschen” in ihre Luftschutzkeller flohen, saßen sie im vierten Stockwerk fest “und wären bei jedem Treffer dran gewesen”. Und doch sehnten sie die alliierten Bomben herbei:
“Die Raketen jaulten und explodierten pausenlos”, heißt es in Degens Autobiographie. “Plötzlich brach der ganze Wahnsinn ab. ‘Was jetzt?’ fragte Martchen. ‘Es wird ihnen doch nichts passiert sein?'” Doch dann rollten die russischen Panzer an ihnen vorbei, “und Mutter lachte, wie ich sie noch nie hatte lachen hören.”
In diesem Jahr werden Degens Erinnerungen an “eine Kindheit in Berlin” verfilmt. Er hat darin seiner Mutter Anna ein Denkmal gesetzt und allen, die ihr Leben für sein Überleben riskiert haben: Martchen Schewe etwa und ihr Schwager, der Kommunist Hotze. Der “Hühnerchef” Radny und Redlich, der Lokomotivführer. Die vornehme Ludmilla Dimitrieff und Oma Teuber, die Puffmutter. Käthe Niederhoff und ihre Schwester Erna, die dafür mit ihrem Leben bezahlte: “Leitfiguren der Menschlichkeit”, nennt Degen seine Retter, “ganz normale Menschen”.
*Sein Buch aber behält den Blick des Jungen bei, unsentimental und schnörkellos erzählt. “Da ist kein Heldenlied entstanden”, urteilte der Schriftsteller Günter Kunert, “Pathos ist ausgeklammert.” Denn so grauenhaft die Situation, so grotesk mitunter die Komik. “Für uns”, so Degen, “war es wichtiger zu lachen als zu essen.”
Hintergrund
Mit der Autoren-Lesung erinnern die Christuskirche Bochum und die Jüdische Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen bereits zum vierten Mal gemeinsam an den Tag, an dem die Überlebenden aus Auschwitz befreit wurden. In den Jahren zuvor hatten Giora Feidman, Coco Schumann und Bente Kahan in der Christuskirche Bochum gespielt. Mit dieser Form der Erinnerung soll das ermöglicht werden, was Paul Spiegel ein “emotionales Begreifen” genannt hat – “soweit dies überhaupt möglich ist”.