Die Geschichte
Wie wir wurden, was wir sind.
“Gottesfurcht, Vaterlandsliebe, Gehorsam” | 1879
Ende des 19. Jahrhunderts wächst Bochum zur Großstadt heran. Die “evangelische Zentralkirche” entsteht unmittelbar neben dem Bochumer Verein, dem zweitgrößten Stahlwerk im Reich. Ihr “hochaufstrebender Turm” muss sich gegen die Schlote behaupten:
“Hier wird das Gemüth emporgehoben über den Staub und die Interessen des Irdischen”
heißt es zur Grundsteinlegung im Mai 1877. In den Grundstein selber wird ein Schreiben von “Se. Majestät dem Kaiser” eingelegt, es ermächtigt dazu, “die ersten drei Hammerschläge in Allerhöchst Seinem Namen zu thun.” Bei der Einweihung im Mai 1879 betonen die Festredner denn auch, worum es hier gehen möge, um
“Gottesfurcht, Liebe zum Vaterland und Gehorsam”.
Und darum, dass,
“wenn der Ruf der Glocken dem Vaterland Gefahr verkünde, ein jeder bereit sei, für König und Vaterland seine Pflicht zu thun.”
Verkündet wird die Gefahr im August 1914, der Erste Weltkrieg beginnt. Wenige Tage später wird der erste “Heldentod fürs Vaterland” inseriert, “gefallen im 25. Lebensjahre”.
“Heldentod fürs Vaterland” | 1925
Am Ende des Weltkrieges haben 1364 Gemeindeglieder mit dem Leben bezahlt dafür, ihre Pflicht getan zu haben. Ihnen will die Gemeinde eine Erinnerung stiften:
“Es sind unsere Gatten, Väter und Söhne, unsere Brüder, Anverwandten und Freunde.”
Elf Jahre nach Ende des Krieges, 1929, wird die Eingangshalle im Turm als Gedenkhalle gestaltet, der Umbau ist aufwändig: 1364 Namen werden in Mosaik eingelegt, jeder Buchstabe besteht aus bis zu 17 Steinchen. Zwischen den Namen ein kleines Kreuz, das wie ein Pluszeichen erscheint:
“Ein erschütternder Rhythmus”
schreibt die Presse. Der Rhythmus ist ein europäischer, man muss die Namen sprechen, um Europa in ihnen zu hören: Adam Amenda Aviszus … Issleib Jantelat Jerdolla … Partschani Pithan Plesdenath …
“Ihr Blut für uns vergossen” | 1929
Oberhalb der Namensreihen thront eine Christus-Figur, der sich, aus einer Wolkendecke heraus, Männer-Figuren entgegen strecken. Die nicht als Soldaten dargestellt sind, auch nicht als Bergleute, eher wie Männer im Totenhemd. Tatsächlich seien es, schreibt das Presbyterium,
“auferstehende Helden”.
Ihrem “teuren Blut” nämlich, so das Presbyterium weiter, sei “unseres Volkes Rettung” zu verdanken. Diese Männer hätten wie Christus am Kreuz
“ihr Blut für uns vergossen”.
Man steht und staunt. Der Heldentod ein Passierschein ins Paradies? Das Mosaik zeigt Gesichter, die nicht sehr euphorisch wirken, eher besorgt. Ob diese Männer und ihre Familien tatsächlich daran geglaubt haben, dass man sich selber erlösen könnte, wenn man sich selber opfert?
Im März 1931 wird der Gedenkraum eröffnet, die Tagespresse schreibt, jeder Mensch solle
“den Helden gleich opferfroh bleiben”,
die Liste mit den Namen der Toten verspreche “Erfüllung und Hoffnung zugleich”.
“Feindstaaten Deutschlands” | 1931
Hoffnung worauf? Neben den Bochumer Namen findet sich eine weitere Liste im Mosaik, darauf die Namen von 28 Staaten:
“Frankreich Russland Italien Japan V. St. v. Nordamerika England Belgien Bolivien Brasilien China Ekuador Griechenland Guatemala Haiti Hedschas Honduras Kuba Liberia Nikaragua Panama Peru Polen Portugal Rumänien Serbien Siam Tschechoslowakei Uruguay”
Es sind die Namen der “Feindstaaten Deutschlands”. Die Frontlinien nachgezogen, als sollten sie ewiglich gelten. Oder deutet sich hier eine versöhnliche Geste an, die das Leiden der anderen mit einbezieht?
“Wir haben gehaust wie die Vandalen”,
hatte Walter Brüggestrat, hörbar verstört, von der französischen Front berichtet:
“Was zu zerstören war, haben wir vernichtet. Sämtliche Ortschaften sind zuerst gesprengt, dann angezündet worden.”
Und dann dieser Satz, auch ihn hatte Brüggestrat nach Bochum geschrieben:
“Es war ein grausiger und zugleich schöner Anblick.”
Ein Satz, der die Zerrissenheit einer Generation formuliert: den Stolz auf sich selbst und das insgeheime Erschrecken vor dem, zu dem der Krieg einen macht.
Brüggestrat fiel im Februar 1918, sein Name ist einer von 1364 Namen im Mosaik.
Jeder kann sich entscheiden | 1933
Im März 1931 wird der “Helden-Gedenkraum” eingeweiht. Der Gottesdienst steht unter dem Motto Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein. Und dann – ist es Hellsicht, ist es Sehnsucht? – singt die Gemeinde Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.
Acht Jahre später beginnt der nächste Krieg. Haben die “Feindstaaten” im Turm die Frontlinien vorgezeichnet?
Die Technik, mit der hier an den Ersten Weltkrieg erinnert wird, greift weit zurück, sie ist 5000 Jahre alt: Mosaik meint Ewigkeit. Nur was soll hier verewigt werden? Die Feindschaft? Gegen wen? Bochumer Namen wie Benitzki, Wilzopolski oder Zielasko stehen dicht zusammen mit dem Feindstaat Polen …
Was anfangen mit einem Bild vom Feind, das nicht dazu taugt, ihn von dem Freund zu unterscheiden?
Als der Gedenkraum im März 1931 eröffnet wird, ist Bochum demokratisch, aber doch bereits eine Hochburg der Nazis. Und seit ein paar Wochen deren “Gau-Hauptstadt”.
Wer ist Freund, wer Feind? Jeder kann sich entscheiden.
Zwei Jahre später, am 4. Juni 1933, ist es Hans Ehrenberg, der das Bochumer Bekenntnis formuliert, das erste Bekenntnis einer Kirche gegen die Nazis.
Ehrenberg ist bei weitem nicht der einzige, der sich den Nazis entgegenstellt, zusammen sind sie bei weitem keine Mehrheit.
“T steht für Totalverlust” | 1943
“Ort: Bochum. Bezeichnung: Christuskirche. Zeitpunkt des Luftangriffs: Nacht vom 13. zum 14. Mai 1943. Art der Beschädigung: T.”
Dürre Mitteilung auf dünnem Papier. T steht für “Totalverlust”, darunter der Zusatz “bis auf den Turm”.
Ausgerechnet. Der Turm, der das Feindbild hütet, prägt eine Stadt, die keine mehr ist. Mehr als 4000 Bochumer sind unter Trümmern begraben, die meisten Bomben sind rund um den Bochumer Verein niedergegangen, dessen Tor 1 die Christuskirche markiert. Hat ihr “hochaufstrebender Turm” den Piloten als Orientierung gedient, um die Waffenfabrik anzufliegen?
Dorthin aber, in die Werkshallen des Bochumer Vereins, waren Tausende Zwangsarbeiter verschleppt worden und Gefangene des KZ Buchenwalds. Frauen und Männer aus Belgien und Frankreich, aus Griechenland und Italien, aus Russland, Polen, Serbien … aus eben jenen Staaten, die im Turm als “Feindstaaten” stehen.
Ihnen, den Zwangsarbeitern Europas, wurde ein “P” auf die Kleidung genäht. Wer es trug, dem wurde, wenn Bomben fielen, der Zugang zum Schutzbunker versperrt.
Ein P, ein J, ein gelber Stern. Die Marke aufgeklebt, das Bild vom Feind.
Keine Stunde Null | 1959
Acht Jahrzehnte nach der ersten Grundsteinlegung – auf den Tag genau am 15. Mai 1957 – wird die neue Christuskirche gegründet. Sie steht in ihrer Tradition, um mit ihr zu brechen:
Das moderne Kirchenschiff setzt sich ab vom alten Turm, das Ensemble setzt sich auseinander. Es verdeutlicht den Bruch mit der Vergangenheit, ohne sie zu leugnen.
Darum ist die neue Christuskirche bilderlos. Keine Figuren, kein Symbole, nur das Kreuz und die Schrift. Unübersehbar der Kontrast zum mächtigen Mosaik im Turm. Diese Kirche löst sich ab vom Bild, das eingelagert ist im Turm, sie stellt kein Bild vor Augen.
Sondern den bilderlosen Gott, den Gott der Juden. Den man nicht sieht, Ihn muss man denken.
Bochumer Kuxe | 1999
Ende der 90er fallen Bruchstücke vom Turm herab, das Mauerwerk hat sich versetzt, der Turm ist einsturzgefährdet.
Daraufhin gründet sich das Kuratorium Christuskirche, es rettet den Turm, indem es erzählt, was sich in ihm verdichtet. Langjähriger Vorsitzender: Alt-OB Ernst-Otto Stüber. Seine Idee: eine “Bochumer Kuxe” auflegen.
Kuxe waren Genossenschaftsanteile an einem Bergwerk, jetzt werden sie zu Anteilsscheinen an der Christuskirche. Verbunden mit dem symbolischen Besitz eines Werksteins, aus denen der Turmhelm aufbaut:
Die Sanierung ist aufwändig, die Unterstützung groß: Insgesamt kommen – ua dank der Deutschen Stiftung Denkmalschutz – 1,85 Millionen Euro zusammen. 2005 können die Arbeiten abgeschlossen werden.
Kirche der Kulturen | 2003
Keine Folklore, kein Multikultikitsch. Kulturen werden hier nicht als ethnische Kategorie begriffen, sondern als soziale,
„weil Kultur keine geschlossene Anstalt ist, die einen dazu verurteilt, sein Leben wie eine Strafe abzusitzen.“
Heißt es in den „Kulturtheologischen Leitfragen“ der westfälischen Kirche, und weiter:
„Beliebt ist die Vorstellung, dass eine bestimmte soziale Gruppe immer schon in der Welt gewesen sei wie eine Urhorde und dann einen bestimmen Stil aus sich heraus geformt habe. Griechen tanzten griechisch, weil sie Griechen seien, Arbeiter sängen Arbeiterlieder, weil sie Arbeiter seien, und weil sie fromm seien, malten Fromme fromme Bilder. ‚Authentisch‘ sei das, heißt es dann. Diese Vorstellung hat Simon Frith, der Pop-Soziologe, vom Kopf auf ihre Füße gestellt: Nicht die Gruppe formt den Stil, der Stil formt die Gruppe, formt ihre Werte, er formt ihre Bekenntnisse.“
Im Guten wie im Bösen. Die alte Christuskirche, im Krieg zerstört, hat auf Imposanz gesetzt, auf Autorität, auf Eingemeindung. Erst der Bruch mit diesem Stil, wie ihn die neue Christuskirche vollführt, macht bewusst, dass alle Kultur nur im Plural zu haben ist, im Bewusstsein auch ihrer unheilvollen Traditionen.
Deshalb ist die Christuskirche keine Kulturkirche, sondern Kirche der Kulturen.