Die Holocaust-Religion des A. Dirk Moses
War Auschwitz beispiellos? Historiker streiten (III)
Theologie ist symbolisches Sprechen. Ob Gott nach Auschwitz noch zu denken sei, lässt sich lesen wie die Frage, ob die Moderne noch zu rechtfertigen, Vernunft zu fassen, Aufklärung über sich selber aufzuklären sei. Die Denkfiguren, die Theologie an die Hand gibt, lassen sich analytisch nutzen oder so, wie es Dirk Moses tut. Der Globalhistoriker, dem postkolonialen Denken verpflichtet, spricht von “biblischen Themen“, die „unter dem Schaum der Oberfläche“ fließen, den er schlägt. Wissenschaftlich dünne Suppe, es schwimmen antijudaistische Brocken darin, Moses aber taucht tief ein und mit Vorschlägen wieder auf, wie Israel zu versenken sei.
Nach Auschwitz sind alle Theologien Versuche, „alles nach Auschwitz ist ein Versuch“, sagt Elie Wiesel. Die theologischen Antworten, wie in Teil (I) und Teil (II) wiedergegeben, zeichnen eine Denkfigur, eine jüdische: Gott lässt sich nur mit Gott in Frage stellen, die Vernunft mit der Vernunft, die Moderne mit den Mitteln der Moderne. Elie Wiesel – Auschwitz-Überlebender, Friedensnobelpreisträger – hat diese Denkbewegung in einer Szene erinnert: Drei gelehrte Rabbiner berufen – in Auschwitz – ein Gericht ein, sie klagen Gott wegen des Blutbads an, das täglich geschieht. Am Ende des Tages, die Sonne geht unter, sprechen sie Gott schuldig, es ist die Zeit des Gebets. „Und sie senkten ihre Köpfe und beteten.“
Jüdische Theologie. Den Namen Gottes heiligt, wer mit Gott rechtet. Wer mit Gott rechtet, unterwirft sich keinem Götzen. Das jüdische Nein zur Macht, die sich vergöttlicht, hat nicht nach, sondern wegen Auschwitz Bestand.
Heute heißt es, dieses jüdische Nein zu erinnern, sei eine „Fetischisierung des Holocaust“, sagt der Globalhistoriker Dirk Moses. Dass es einen Ort gibt in dieser Welt, der alle Mächte und Gewalten relativiert, sei eine „allmächtige Waffe des Relativierens“, schreibt Aleida Assmann: Von Auschwitz aus werde die „Keule der Zensur“ – 1998 hatte Martin Walser von einer „Moralkeule“ gesprochen – in alle Himmelsrichtungen geschwungen. Was zur Folge habe, so behaupten es Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer, dass andere Völkermorde „fetischhaft“ geleugnet würden, jeder Vergleich mit anderen Verbrechen sei „tabuisiert“, Auschwitz habe einen „fast schon heiligen Status“ erlangt und eine – wieder Dirk Moses – „sakrale Erlösungsfunktion“.
Sie theologisieren auf Teufel komm raus. Und zapfen damit – so liest es der Historiker Dan Diner in der FAZ – ein „kulturell-religiöses Gedächtnis“ an, in dem „Formatierungen“ gespeichert seien, die „theologische Konturen“ bewahren, in diesem Fall gehe es um „das Motiv der Erwählung“.
Dessen ursprüngliche Form in der Thora: Gott hat die Juden gewählt, die Juden Gott, eine wechselseitige Wahl. Die allerdings nicht zum Bewusstsein „rassischer“ Überlegenheit passt, das die Nazis für sich beanspruchen, sie verkehren das biblische Motiv in das einer „negativen ‚Erwählung‘“, indem sie das von Gott gewählte Volk zur Vernichtung bestimmen. Solche negative Erwählung aber, von den Nazis in Auschwitz verwirklicht, passt heute wiederum so gar nicht zum „Ethos einer menschheitlichen Gleichheit“. Dieses Ethos, ebenfalls theologisch konturiert, wünsche sich „einen Genozid unter anderen Genoziden“.
Texte, die Diners These stützen, gibt es ohne Zahl: Als negative Erwählung – theologisch: Verworfenheit – zählt das Motiv zur Geschichte des christlichen Abendlandes, Juden waren als ‚Verworfene‘ eine Art lebender Beweis christlichen Erwähltseins. Als sich diese Sichtbarkeit im Laufe der Emanzipation abschliff, ging auch das Motiv der Erwählung ins Unsichtbare über und in Verschwörungsmythen auf, es entstand die Vorstellung von einem „geheimen Streben der Juden nach Weltherrschaft“. In dieser Form findet sich das Motiv der Erwählung dann in nahezu allen Hitlers Reden wieder, in Nazi-Wissenschaft und Alltagskultur oder auch in jenem Neid-Faktor, den Götz Aly durchgerechnet hat. Die Methode ist eingeölt: Judentum wird erhöht (“erwählt”), um es stürzen zu können.
Heute widerfährt eben dies der Erinnerung an Auschwitz, sie wird theologisiert (“erhöht”) und dann mit rebellischem Gestus gestürzt. Und das Verbrechen selber? Ist bereits singulär (“erhöht”) und wird nun “zwanghaft der Gestalt kolonialer Gewalt” anverwandelt, so formuliert es Dan Diner. Ziel: Auschwitz „vom Sockel einer von den Nazis verfügten negativen ‚Erwählung‘ stürzen“. [1]
In der Tat, sie stürzen: So etwas wie Auschwitz komme „häufiger“ vor, lehrt Jürgen Zimmerer, Auschwitz sei „überall“, erklärt Achille Mbembe, Auschwitz sei ein „verbreitetes Muster“, doziert Dirk Moses. Dass Moses’ Konzept von einem „quasi religiösen und darum sehr aggressiven Impuls“ befeuert ist, hat Thierry Chervel bereits auf perlentaucher.de gezeigt. Die Frage jetzt ist: Wie gelingt Moses diese Luftrolle, dass er die Erinnerung an Auschwitz zuerst theologisiert und dann veralltäglicht, zuerst aufsockelt und dann absägt? Drei Texte dazu aus seiner Hand:
Moses‘ polemischer Text
Bekannt gemacht hat sich der australische Historiker, Professor für Global Human Rights History in North Carolina, mit einem Text – hier – , den er wiederholt als „Polemik“ bezeichnet, darin schreibt er, in Deutschland sei die Erinnerung an Auschwitz ein „christologisch geprägter Erlösungsnarrativ“, die „‘Opferung‘ der Juden“ werde als „Heilsgeschichte“ erzählt, in der werde, von „Glaubenswächtern“ kontrolliert, die „‘Wiederauferstehung‘ des Opfers“ inszeniert und die „Fetischisierung der europäischen Zivilisation“ betrieben, das Ganze sei ein „Katechismus“ usw.
Moses‘ nicht-polemischer Text
Diesem „Katechismus“-Text ließ er einen zweiten folgen – hier nachzulesen – , von ihm wiederholt als nicht-polemisch gekennzeichnet, darin erklärt er, in Deutschland werde die „Fetischisierung des Holocaust als eines sakralen Objekts“ betrieben, indem ein „institutionalisiertes Set von Glaubenssätzen“ – der „Katechismus“ – von einer „priesterlichen Klasse“ überwacht werde, die „immer wieder neu opfern” müsse mit dem Ziel, „den Holocaust als die Negation der westlichen Zivilisation zu sakralisieren“ usw.
Moses‘ wissenschaftlicher Text
Dasselbe noch einmal in einem dritten Text – hier als pdf. Jetzt, im wissenschaftlichen, also dem methodisch gebundenen Kontext heißt es, die „deutsche post-Holocaust-Gemeinschaft“ sei auf der „Suche nach Vergebung“, daher müsse sie „den Juden Opfer darbringen“, weil sie nur „durch das Erinnern an den Tod der Juden (…) erlöst“ werden könne, es handele sich um „eine Form des Ahnenkults“, die Erinnerung an Auschwitz basiere „auf einer Ersatztheologie, in welcher Juden so getötet wurden, dass ein neues Deutschland geboren werden kann“ usw.
Mit Textsorten und wie sie sich einsortieren lassen, tut sich Moses schwer. Deutlich aber, dass der wissenschaftliche Anspruch dominiert: Lediglich im ersten Text, dem polemischen, deutet er zwei- dreimal an, dass er nur theologische Bilder nutze („als ob“), ansonsten „ist“ alles immer so bei ihm und ist dies durchgehend in seinem wissenschaftlichen Text.
Den Gedankenweg dort beginnt er bei der Individualpsychologie, von ihr gelangt er (mit immerhin leisen Skrupeln) zu dem Postulat eines „überindividuellen Gruppenbewusstseins“, vom überindividuellen Gruppenbewusstsein zu einem nationalstaatlich organisierten, vom nationalstaatlich organisierten zu einem gesellschaftlich gegliederten, vom gesellschaftlich gegliederten zu „zweierlei Arten“, die eine wolle „verteidigen“, die andere „erneuern“, daraus ergäbe sich eine „Struktur politischer Emotionen“ – und an dieser Stelle springt er hinüber zu all den theologischen Motiven, die er als gleichsam handelnde Denkfiguren in seiner „Struktur politischer Emotionen“ auftreten lässt.
Nur wo kommen all die biblischen Figuren mit einem Mal her?
Moses Szenenfolge ((S. 359 f) hier durchnummeriert:
Szene 1
Das Gefühl der Schuld, erklärt Mose, sei mit dem theologischen Motiv der „Erbsünde“ überhaupt nicht in Einklang zu bringen: Schuld werde immer und überall als individuelle gedacht. Beleg: Sozialpsychologische Untersuchungen.
Szene 2
Das Gefühl der Schuld, das in Deutschland nach 1945 empfunden werde, sei mit dem theologischen Motiv der „Erbsünde“ sehr wohl in Einklang zu bringen. „Belegt“ sei dies, schreibt er, durch die „Beobachtung“ eines deutschen Autors, Michael Schneider, der habe „in den siebziger Jahren“ einmal eine „gleichsam biblische Schuld im Raum der Geschichte“ stehen sehen.
Szene 3
Diese Schuld, behauptet Moses im unmittelbaren Anschluss, sei dasselbe wie Sünde und darum dasselbe wie „Erbsünde“. Das sind nun allerdings zwei Gedankensprünge in einer Zeile: Schuld ist ein mehrdeutiger Begriff, er kann ökonomische Bedeutung haben, juristische, moralische, es geht um zwischenmenschliches Verhalten. Sünde meint ein bewusstes Verhalten Gott gegenüber … Wer, meint Moses, habe sich hier gegen welchen Gott aufgelehnt?
Szene 4
„Erbsünde“, erläutert Moses, bedeute, dass es der jüdische Gott sei, der die Deutschen „verfolge“. Als Beleg für diese Behauptung beruft er sich auf 2. Mose Kapitel 20 Vers 5, es ist ein Vers aus den Zehn Geboten – und spätestens ab hier stimmt gar nichts mehr:
_ Professor Moses ignoriert den Originaltext, ungeprüft gibt er eine von Hunderten Übersetzungen wieder, welche auch immer. Dieser Übersetzung zufolge habe der jüdische Gott gesagt: „‘Wer mich verachtet und beiseite stellt, bei dem verfolge ich die Schuld der Väter noch bis zur dritten und vierten Generation‘, verkündet Gott …“ Verkündet Moses.
_ Er zitiert ohne Zusammenhang: Der Vers 5 begründet das Gebot, den Namen Gottes zu heiligen (s. Teil I), und das heißt, sich kein Bild zu machen vom unsichtbaren Gott. Moses verallgemeinert ins Blaue.
_ Im selben Moment nagelt er fest: Das hebräische Verb poked, das er als „verfolgen“ ausspielt, bedeutet auch „erinnern“, Luther übersetzt es mit „heimsuchen“, Crüsemann mit „nachgehend“, Tur Sinai mit „bedenken“. Der Vers bemisst die Folgen eines Tuns innerhalb eines Zeit- und Handlungsrahmens, der für Menschen verantwortbar, verfolgbar ist: Die „dritte und vierte Generation“ sind offenkundig Großfamilie, sie zählen zum eigenen Haus, die Folgen des eigenen Tuns suchen heim.
_ So unterschlägt Moses das Entscheidende: Offensichtlich sind in dem Vers nicht Generationen in Gänze gemeint, sondern unmittelbar handlungsfähige Gemeinschaften, und das heißt: Für alle gilt die Entscheidungsfreiheit vor Gott.
_ Das zeigt sich bereits im direkt folgenden Vers, den Moses nicht zitiert, darin geht es um das, was eine Wahl ermöglicht, die Alternative. Moses hätte aber auch, um es noch deutlicher zu kriegen, 5. Mose 24, 16 zitieren können etwa in der im angelsächsischen Raum verbreiteten King James-Übersetzung: “The fathers shall not be put to death for the children, neither shall the children be put to death for the fathers: every man shall be put to death for his own sin.” Er hätte Ezechiel 18,4 zitieren können oder Jeremia 31,29, überall geht es darum, dass Schuld – ganz so wie Moses selber es in seiner Szene 1 beschreibt – “mit individueller Verantwortung verbunden” ist und für den Einzelnen entscheidend, „ob er den Verstoß einer bestimmten, von ihm selbst kontrollierten Handlung zuschreiben kann“.
Unterm Strich: Der eine Satz, den Mose seiner Argumentation zugrunde legt, bedeutet das gerade Gegenteil von dem, was er hinein liest. Mit Erbsünde hat das alles rein gar nichts zu tun, das Konzept der Erbsünde entstammt der christlichen Tradition, bezieht sich auf ganz andere Texte, meint etwas völlig anderes und ist dem jüdischen Denken vollkommen fremd.
Für einen, der Studierenden den methodischen Umgang mit Quellenmaterial beibringt, ist so ein Umgang mit Texten bemerkenswert: Methodisch zählt Moses – übrigens genau wie Achille Mbembe, auch er hat alles Übel dieser Welt auf einen jüdischen Rachegott zurückgeführt, mehr dazu hier – zählen sie beide zu den Wissenschaftsverweigerern, den Fundamentalisten. Das ist trostlos, bedrohlich dagegen das Ergebnis, Moses behauptet:
Der jüdische Gott verfolge deutsche Kinder. Mehr Täter-Opfer-Umkehr ist nicht denkbar.
Dazu passt denn auch Moses‘ dauerndes Gerede von „Hohepriestern“, die – gleichsam Handlanger des jüdischen Rachegottes – „überwachen“ und „überführen“, „denunzieren“ und „herunterbeten“ würden: Diese Figur, die er durch seine Kulissen scheucht, stammt aus dem antijüdischen Arsenal der christlichen Tradition, sie stellt – mehr dazu hier – das Urbild des „Gottesmörders“ dar, des mächtigen jüdischen Strippenziehers, der Unschuldige bis hin zum Höchsten morden lässt. „Hohepriester der Holocaust-Religion“ hat die JUNGE FREIHEIT, das Organ der Neuen Rechten, vor Jahren bereits getitelt und damit – genau wie jetzt Dirk Moses – Dan Diner gemeint, den Link zur Rechtspresse erspare ich mir.
Szene 5
Eben diese „Rede von einer Erbsünde“ sei es, so Moses, die seit Jahrzehnten in der bundesdeutschen Erinnerung an Auschwitz „zirkulieren“ würde und zwar gemeinsam mit „einem ganzen Ensemble weiterer biblischer oder religiöser Ausdrücke“: Neben „Erbsünde“ seien dies „Tabu, Häresie, Orthodoxie, Heiligkeit, Stachel im Fleisch usw.“
Als Beleg führt er an dieser Stelle an: „Journalisten“. Die würden sich „für gewöhnlich“ einer theologischen Sprache bedienen, wenn es ums Erinnern gehe. Wer wann? Die Journalistin Nicola Frowein, schreibt Moses, sie habe etwas dieser Art am 10. Mai 2005 im ZDF-Heute-Magazin gesagt. Der halbe Satz, den Moses dann von ihr zitiert, handelt allerdings von „Reue“ und „seelischem Gleichgewicht“, das eine ist ein juristischer Begriff, das andere ein psychologischer.
Szene 6
Diese „biblischen Themen“, erklärt Moses nun, würden die „politischen Emotionen“ lenken. Wie das? Es gebe, erklärt er nun (S. 363f), eine „von biblischer Thematik durchdrungene Sorge der Deutschen“. Diese Sorge drehe sich darum, dass man eine „aus der Gemeinschaft der Völker ausgestoßene Nation“ bleiben würde, falls man die Juden nicht achtsam behandele.
Beleg für diese biblische Sorge: ein Zitat von John McCloy, US-Hochkommissar in der Hochzeit der Ent-Nazifizierung 1949-52, dann rüber zu Lea Rosh, Initiatorin des Berliner Holocaust-Denkmals, wir sind jetzt ein halbes Jahrhundert später dran, gleich weiter zu Martin Hohmann, heute AfD, der habe 2003 das Mahnmal ein „Kainsmal“ genannt, schließlich habe Joschka Fischer, Außenminister, von Auschwitz als einem „unauslöschlichen Zeichen“ gesprochen, Beweiskette geschlossen.
Soweit Moses‘ Gedankengang: erschütternd dünn, methodisch grotesk, theologisch stupid. Auf diese Weise begründet er seine Analyse, „unter dem Oberflächenschaum der Ereignisse“ würden „biblische Themen“ fließen, die Erinnerung an Auschwitz sei eine „Ersatztheologie“.
Fundament dieser Dirk-Moses-Theologie ist seine Schauermär vom jüdischen Rachegott, der unschuldige Kinder verfolge.
Als was soll man sowas bezeichnen? Wenn jemand mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erklärt, seit einem Vierteljahrhundert werde die Bundesrepublik regiert von einer „staatlich sanktionierten, staatlich gelenkten politischen Religion, die von einer priesterlichen Klasse von Politikern und Journalisten geleitet wird“, den „Hohepriestern“? Den Leuten werde eine Religion „aufgezwungen“ mit dem Ziel, sie zu „disziplinieren“, die Religion werde „als Waffe eingesetzt“ gegen die Bevölkerung, die ihrer eigenen Psychowäsche beiwohnen müsse, die Moses sich als eine Art gesamtgesellschaftliches Passionsspiel vorstellt:
Deutsche, schreibt er, hätten „die Rolle des geopferten Jesus durch Juden“ besetzt, und die hätten ihnen dann eine „säkulare Version von Christus“ dargeboten, „nur dass jetzt die Mörder Christi nicht Juden, sondern Nazis“ seien … Ein Flüsterrollenspiel, das er behauptet, es habe sich, so Moses, aus dem religiösen Unterstrom heraus „Ende der Nullerjahre entwickelt“ und sei zur „Staatsideologie“ geworden.
Gehen wir der Zeitangabe nach: Es gibt – weil ja die „reumütige Gemeinschaft“, wie Moses weiß, „den Juden weiterhin in regelmäßigen, nationalen Ritualen Opfer darbringen muss“ – es gibt die eine offizielle Gedenkveranstaltung der Republik zum 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz. Seit Ende der Nullerjahre haben im Bundestag zu diesem Tag gesprochen:
Imre Kertèsz, Überlebender, Literaturnobelpreisträger. Shimon Peres, Überlebender, Staatspräsident. Feliks Tych, Überlebender, Historiker. Zoni Weisz, Überlebender, Vertreter der Sinti und Roma. Marcel Reich-Ranicki, Überlebender, Schriftsteller. Inge Deutschkron, Überlebende, Journalistin. Daniil Granin, Überlebender, Schriftsteller. Ruth Krüger, Überlebende, Schriftstellerin. Sigrid Falkenstein, Stimme für die Opfer der Euthanasie. Anita Lasker-Wallfisch, Überlebende, Cellistin. Saul Friedländer, Überlebender, Historiker. Reuven Rivlin, Staatspräsident. Charlotte Knobloch, Überlebende, gemeinsam mit Marina Weisband, Stimme der Nachgeborenen.
Alle „Fetischisten des Holocausts“? „Säkulare Versionen von Christus“?
Heute, erklärt Moses, laute das Ziel der Clique, die das Land regiere: „Israelifizierung Deutschlands“. Moses Geschichtsphilosophie geht so:
„Das Nazi-Reich war ein kompensatorisches Unternehmen, das permanente Sicherheit für das deutsche Volk anstrebte: nie wieder sollte das Volk z.B. eine Hungersnot erleiden müssen“, weil es da dann schnell zu „rachsüchtigen Kämpfen gegen ‚Erbfeinde‘“ komme. Also hätten die Nazis vorsichtshalber entsprechende „Muster in den Imperien der Antike wie der Moderne studiert und eine rücksichtslos moderne Version davon entworfen“. [2] Ihr Ziel: den Deutschen „eine Heimat geben“. Auschwitz sei „ein verbreitetes Muster“.
Aus Nie-Wieder wird Immer-Wieder-Mal. Wie ernst es Moses damit ist, hat Alan Posener hier gezeigt: Der wahllose Raketenbeschuss der israelischen Zivilbevölkerung durch Terrorfirmen wie Hamas sei aus Moses Sicht völlig legitim, völkerrechtlich müsse man diesen Beschuss per Beschluss legalisieren. Der ZEIT gilt der postkoloniale Vordenker als ernstzunehmender Gesprächspartner.
Vermutlich ist es richtig, ein Denken ernst zu nehmen, das sich im religiösen Gewand als religionskritisch verkauft. Vielleicht wird eine Sekte daraus, vielleicht eine Bewegung, vielleicht mehr.[3] Für die Israelis hält Moses drei Nachrichten vor: Ihr Staatsziel Sicherheit wird, geht es nach ihm, völkerrechtlich sanktioniert. Werden Israelis mit Raketen beschossen, wird es völkerrechtlich honoriert. Auschwitz passiert immer wieder mal.
„Man kann sagen, was man will, ich fürchte solche Menschen!” Chaim Kaplan am 23. Dezember 1939, das Ghetto in Warschau war noch nicht errichtet: „Der Nazi“, schrieb er über Nazis, „hat sowohl das Buch wie das Schwert, und das macht seine Kraft und Macht aus.“
[1] So auch im Plenarsaal der Vereinten Nationen, wie Alex Feuerherdt und Florian Markl aufgezeigt haben: Allein in 2017 richteten sich 21 von 27 Resolutionen der UN-Vollversammlung ausschließlich gegen Israel, auch hier wäre von „negativer Erwählung“ zu sprechen und einer „sich universell dünkenden Haltung“, die sich darauf verständigt hat, Israel unter allen Staaten als Negativ zu singularisieren und zu verdammen.
[2] Moses wörtlich: „Wann immer Staaten das utopische Ziel permanenter Sicherheit verfolgten, versuchten sie, zukünftige Bedrohungen zu antizipieren, indem sie Endlösungen erdachten und in Kraft setzten.“ Solche überzeitlichen Muster haben Adorno/Horkheimer, als die Verbrennungsöfen in Auschwitz arbeiteten, „eine Art Schrulle“ genannt.
[3] Moses „Katechismus“ wurde von seinen Apologeten immer wieder mal mit dem „Katechismus der Deutschen“ assoziiert, den Heinrich von Kleist 1809 für ein Land verfasst hat, das deutsch werden sollte. 1887 erschien der „Antisemiten-Katechismus“ von Theodor Fritsch, gerichtet an ein deutsches Land, das antisemitisch werden sollte, das Werk erfuhr 49 Auflagen.
Beide Vergleiche sind abwegig, naheliegend dagegen, dass Helmut Schelsky Pate gestanden hat für Moses Theologisieren: Schelsky, konservativer Soziologe (sein Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ wurde geflügelt), hatte 1975 eine „Priesterherrschaft der Intellektuellen“ ausgemacht, der linken: Die Post-68er, so Schelsky, würden eine „neue Heilslehre“ predigen, eine „Glaubensgefolgschaft“ formen, „Erlösungsbedürfnisse“ wecken und „Verheißungen“ verkünden, ihre Medien würden sich auf die Aufklärung berufen wie „auf Johannes den Täufer“ usw. Anders als Moses jetzt meinte Schelsky sein Theologisieren uneigentlich. Mit Die skeptische Generation (1957) hat er allerdings die Vorlage gegeben für Moses, der promoviert worden ist mit einer Arbeit über eben diese „The Forty-Fivers“, die Generation der 45er zwischen NS-Staat und Demokratie.
Also alles nur eine Verkaufe? Der stumme Schreie nach einem Verleger? Wenn, wäre es nicht leichter erträglich, es hieße, dass Moses alle – die ermordet wurden und die an das Morden erinnern – eben so für seine Karriere verzwecken würde, wie er dies mit all den „Marginalisierten“ tut, in deren Namen er zu sprechen reklamiert, während er alle Aufmerksamkeit auf sich selber lenkt. Stimme der Stummen zu sein, als die sich Moses verkauft, wirkt schon recht kolonial.