Krieg, Ukraine

Gerechter Krieg?

Die Evangelische Kirche denkt um

Helsinki an Tag 3 von Putins Krieg by rajatonvimma /// VJ Group Random Doctors CC BY 2.0

„Sie brauchen mehr als unser Mitgefühl und unsere Gebete.“ Sagte die Präses der westfälischen Landeskirche, Annette Kurschus, Anfang März der Funke Mediengruppe. Seit November 2021 ist Kurschus, was Margot Käßmann bis Februar 2010 war, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Käßmann hält alles, was über humanitäre Hilfe für ukrainische Flüchtlinge hinausgeht, für falsch, Kurschus stellt fest: „Ihr Land“, das der Ukrainer, „wurde willkürlich und bösartig überfallen, sie haben das Recht, sich zu verteidigen.“ Und dann dieser Satz: „Wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen.“

Blamiert hat Putin alle und alles, Pop und Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, Medien und Kommentatoren, Kultur und Kirche, Käßmann und „Konkret“ und so weiter: Nicht dass Putin diesen Krieg führt, sondern wie er ihn führen lässt, wirft jeden, der dachte, er sei auf Höhe der Zeit, hinter sich selber zurück. So schlau wie heute war gestern kaum wer, gerade weil die Bilder aus der Ukraine heute so aussehen wie gestern die in der NS-Wochenschau. Die „Zeitenwende“, die alle erspüren, geht auf eine Impression zurück, einen Sinneseindruck, der das Denken verändert. Beispiel: die evangelische Kirche.

Deren Friedensethik war immer äußerst weit gespannt, zwischen einem Militärbischof und einem radikalen Pazifisten liegt ein weites Feld. Zuletzt hatte die pazifistische Fraktion klare Geländegewinne erzielt, ausgelöst weniger durch das Epochenjahr 1989 als wiederum durch eine Impression, den ersten Krieg im Bildschirmformat: 1991 berichtete CNN live, wie eine von den UN mandatierte Koalition Saddam Hussein davon abhielt, Kuwait besetzt zu halten.

Damals überboten sich die Feuilletons in ihrer Empörung über die Bilder  –  weniger darüber, dass Saddam Hussein Dutzende Raketen auf Tel Aviv abfeuerte und Juden in Schutzräume zwang wie früher in Ghettos, sehr viel mehr darüber, wie gefesselt man sich fühle, von der Couch aus mitanzusehen, wie Cruise Missiles im Irak ihre Ziele finden. Angesichts der Fernsehbilder beschied etwa Heinrich Albertz, Pfarrer und zuvor Berlins Regierender: „Ja, die Rede vom ‚gerechten‘ Krieg ist Gotteslästerung“. Bitterböse damals der Kommentar von Eike Geisel: Friedensbewegte hätten die Video-Ästhetik des Krieges als einen „Bluff“ durchschaut, darauf aus, dass sie als TV-User „um die Leichenberge betrogen wurden“.

Berge, die sich am nächsten Morgen umso rasanter auf Millionenhöhe türmen ließen, von FAZ bis TAZ wurden Hekatomben geschichtet. Später wird die Zahl der tatsächlich getöteten Zivilisten auf 3500 geschätzt: Der erste Medienkrieg war kein Krieg der Bilder, sondern der Einbildungen.

“Keine weiße Weste”

Das ist der Krieg, den Putin in der Ukraine führt, nicht, Mariupol sieht tatsächlich aus, wie Warschau aussah. Wenn es in der Geschichte einen unbestritten gerechten Krieg gegeben hat, dann den gegen unsere Vorfahren, die solche Stadtbilder schufen. Und heute den, mit dem sich die Ukrainer dagegen wehren, dass ihre Städte erneut, diesmal von Russen, in Schutt und Asche gelegt werden. Der Satz von Annette Kurschus  –  „ wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen“  –  bringt diese deutlich veränderte Wahrnehmung auf den Begriff:

Kurschus rückt ihren Satz sehr betont in die Ich-Form, die erste Repräsentantin des deutschen Protestantismus macht mehr als deutlich, dass, wer immer in dieser Situation gewaltfreien Widerstand einklagt, erst recht nur in der Ich-Form sprechen kann, alles andere ist erbarmunglos.

Zweitens bedeutet Kurschus‘ Satz: Schwerter lassen sich in Pflugscharen umschmieden, das schon, aber sie lassen sich nicht ersetzen. Damit rückt sie etwas zurecht, was friedensethisch zuletzt verwischt worden ist: den fundamentalen Unterschied, der zwischen einem von Gott gewirkten Frieden  –  keine Schwerter, nur noch Pflugscharen  –  und einem von Menschen gemachten besteht, bei dem es immer nur um weniger Schwerter und mehr Pflugscharen gehen kann.

Heißt drittens, dass der Rat der Evangelischen Kirche  –   ebenso die Bischofskonferenz der katholischen Kirche  –  Waffenlieferungen an die ukrainische Armee für „grundsätzlich legitim“ halten. Das Thema Rüstungsexporte ist das Fort Knox der kirchlichen Friedensethik.

Vier Tage nach ihrem Interview mit der WAZ wird Kurschus noch deutlicher, im Interview mit dem epd erklärt sie: „Wir können in dieser Situation keine weiße Weste behalten. (…) Aber wir dürfen dem als Kirchen nicht ausweichen, indem wir schweigen und uns aus der Verantwortung ziehen.“ Die protestantische Friedensethik, eh nicht zeitlos, müsse einer „kritischen Prüfung“ unterzogen werden.

Lehre vom gerechten Krieg

Was hier geschieht  –  und in einer sehr unaufgeregten Weise geschieht, wenn man es mit früheren Debatten vergleicht; der Friedensbeauftragte der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, hält tapfer dagegen, aber auch das liest sich eher so, als gäbe er zu Protokoll  –  was gerade geschieht, sind theologisch eminente, aber keine tektonischen Verschiebungen.

Blick zurück: Im 4. Jahrhundert hatte Augustin seine Lehre vom gerechten Krieg entworfen, deren klassische Form stammt von Thomas von Aquin, 13. Jahrhundert, ihr Clou besteht darin, dass sie dem Krieg jede religiöse Weihe entzieht. Ein gerechter Krieg  –  ein ungerechter sowieso  –  ist das Gegenteil eines „Heiligen Krieges“, eines von göttlicher Autorität angeordneten Waffengangs. Krieg wird in dieser entheiligten, gleichsam säkularisierten Theologie an eine Rechtsordnung gebunden und allein an den Maßstäben menschlichen Rechts gemessen, die drei Kriterien:

Nur eine legitim herrschende Autorität hat das Recht zum Krieg; ihn zu führen erfordert einen gerechten Grund; Ziel muss sein, Frieden (wieder-) herzustellen.

Klingt lapidar, schließt aber ungemein Vieles aus: private Fehden und persönliche  Interessen, willkürliche Zwecke und jede Berufung auf göttliche Legitimation. Neben das „Recht zum Krieg“ tritt das „Recht im Krieg“, hier gilt: Die Art, ihn zu führen, muss angemessen sein, angewandte Gewalt verhältnismäßig, Zivilisten sollen verschont, Gefangene menschlich behandelt werden.

Präses Annette Kurschus im Rathaus Bochum am Tag des Friedens 2019 | (c) Presseamt Stadt Bochum

Wie bei allen Rechtssätzen kommt es auch hier auf ihre Interpretation an, die Literatur dazu ist über Jahrhunderte angewachsen. Sicher wurde die Lehre vom Krieg teils übel missbraucht, unterm Strich aber steht: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein, ein Verteidigungskrieg dagegen muss sein, nicht damit der einzelne Christ sich selber schütze, wohl aber alle, die einer Aggression schutzlos ausgeliefert sind.

Der I. Weltkrieg bedeutete einen Cut für diese lang tradierte Lehre, zu offenbar das Dilemma, dass sie auf beiden Seiten der Front plausibel erschien. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson war der erste, der versuchte, die Theorie von ihrem Ende her zu denken, dem Ziel eines „gerechten Friedens“. Auch hier wieder die Bindung an eine Rechtsordnung, anders aber als bei der Lehre vom gerechten Krieg lässt sich die Idee eines gerechten Friedens über menschliches Rechtsdenken hinaus unmittelbar an göttliche Autorität ankoppeln. Ein Vorteil?

Ein Nachteil? Zunächst nur eine kleine Verschiebung im frommen Bewusstsein: Krieg soll nicht sein laut Gottes Willen, Frieden muss sein laut desselben göttlichen Willens. In diesem Spielraum zwischen Soll und Muss liegt der Geburtsort des modernen christlichen Pazifismus. Getauft wurde er, als die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen, seitdem scheinen das Gebot Gottes und das der Wirklichkeit eins geworden zu sein: Wenn es Atombomben gibt, kann es keine gerechten Kriege mehr geben.

„Kein Mittel legitimer Selbstverteidigung“

Sondern was? „Aus Gottes Frieden leben  –  für gerechten Frieden sorgen“, heißt eine 2007 veröffentlichte Denkschrift des Rates der EKD, der Titel ist Programm: Frieden und der eigene Auftrag wird hier unmittelbar von Gott her gedacht. Dagegen wird die Lehre vom gerechten Krieg  –  die ja nun gerade nicht von Gott her argumentiert, sondern vom menschlichen Ermessen  –  rundweg verworfen: „Im Rahmen des Leitbilds vom gerechten Frieden hat die Lehre vom bellum iustum keinen Platz mehr“, heißt es jetzt.

Stattdessen setzt die Denkschrift  –  es ist die Käßmann-Position  –  ganz auf „zivile Konfliktbearbeitung“, auf „universale Institutionen“ und „Förderung von Lernprozessen“.  Kein Platz mehr auch für den Versuch, „durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern“, die Zeit für atomare Abschreckung sei endgültig abgelaufen, wörtlich: „Aus der Sicht evangelischer Friedensethik kann die Drohung mit Nuklearwaffen heute nicht mehr als Mittel legitimer Selbstverteidigung betrachtet werden.“

Warschau Altstadt 1945 by Polish Press Agency Public Domain

Man kann sich leicht lustig machen über die Vorstellung, wie Margot Käßmann aus Hannover mit Taliban-Kriegern im Zelt die Rechte von Frauen in Lernprozessen verhandelt. Was man dieser friedensethischen Position zugestehen muss: dass sie das Scheitern der realpolitisch Nüchternen und militärisch Versierten deutlich eher und scharf gesehen hat. „Nichts ist gut in Afghanistan“, der Satz aus einer Predigt Käßmanns, seinerzeit heftig diskutiert, stammt von Neujahr 2010 und nicht vom 29. Juni 2021, als der letzte Bundeswehr-Soldat ausgeflogen und das Land den Taliban überlassen wurde.

Ausrichtung am Nato-Ziel

Ernüchtert sind heute alle, ob sie auf Schwerter gesetzt haben oder auf Pflugscharen. Für die protestantische Friedensethik hat dies  –  das hat Kurschus mit ihrem klugen Satz klar gemacht  –  Konsequenzen:

_ für die Frage, wie Aufrüstung  –  das 100 Milliarden-Programm der Bundesregierung  –  unter jetzigen Bedingungen zu werten sei,

_ für die Frage nach Rüstungsexporten,

_  für eine friedensethische Reflektion von Geopolitik: deren Bedeutung, so der westfälische Theologe Ulrich Körtner, Professor an der Uni Wien, sei bisher noch nicht begriffen,

_ für eine sehr grundsätzliche Reflektion darüber, dass, so nochmals Körtner, die „Kategorie des Feindes“, als den die russische Regierung den Westen sieht, sehr real in unsere Weltsicht eingerückt ist,

_ Konsequenzen für die Frage nach atomaren Waffen: Als Begründung dafür, warum eine atomare Abschreckung nicht mehr funktioniere, hatte die EKD-Denkschrift 2007 erklärt, man könne nicht „von vornherein mit einem zu rationalem Kalkül geneigten Gegner rechnen“. Heute setzt diese Begründung ihr Gegenteil frei: Bei einem rational verpeilten Gegner wie Putin ist die atomare Drohung ultima ratio, sie setzt auf einen allerletzten Rest von Vernunft, auf was sonst.

_ Konsequenzen für die Frage nach konventionellen Waffen: 2019 hatte die EKD-Synode ihre Friedensethik klimapolitisch unterbaut und die Bundesregierung aufgefordert, „mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für entwicklungspolitische Maßnahmen auszugeben“. Die 2%- Forderung, hieß es schachzugmäßig, „orientiert sich an dem Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes für Verteidigung auszugeben“. Diese Ausrichtung am Nato-Ziel aber setzt ein insgeheimes Einvernehmen voraus oder deutet es zumindest an: Wer entwicklungs- und verteidigungspolitische Aufgaben auf Augenhöhe bringen will, kann keine Abrüstung fordern.

Die evangelische Kirche, die gerne bekennt, wird Farbe bekennen müssen, es wird nicht die der weißen Weste sein.


Beitrag zuerst erschienen auf dem Blog ruhrbarone.de am 27. März 2022