Lade Veranstaltungen

Menschensinfonieorchester

Weltmusik von Wohnungslosen: Zum Tag der Befreiung

Menschensinfonieorchester by r. manzi (c)

“Der Angeklagte spielt Mundharmonika und singt gewerbsmäßig auf öffentlichen Straßen.”

Im Juni 1940 wurde der 59-jährige Ernst Rutzen wegen “Bettelei, Landstreicherei und grobem Unfug” ins KZ verschleppt. Wie ihm, dem gelernten Bäcker, erging es mehr als 10.000 Wohnungslosen während der Nazi-Zeit. Heinrich Himmler, Chef der Deutschen Polizei:

“Jeder Bettler, der arbeitsscheu ist, ist sofort einem Konzentrationslager zuzuführen.”

Noch heute zählen Wohnungslose zu den vergessenen Opfern. Am Tag der Befreiung – Freitag, 27. Januar um 20 h bei freiem Eintritt – werden sie in der Christuskirche Bochum mit einem Konzert des “Menschensinfonieorchesters” geehrt: Weltmusik von Wohnungslosen, die an die Verfolgung von Wohnungslosen und Wandermusikern erinnert.

Es ist ein sonderbares, ein wunderbares Ensemble, dieses “Menschensinfonieorchester”. 16 Mitglieder, die einen sesshaft, die anderen nicht. Ein Gitarrist aus Wattenscheid, ein Bassist aus Zürich, ein Trommler aus dem Iran. Eine Gitarre aus dem Müll, eine zerbeulte Posaune und ein Bass, der aus einer Teekiste, einem Besenstiel und einer Wäscheleine besteht. “Ich höre Klänge”, sagt der Jazzmusiker Alessandro Palmitessa, der das Ensemble 2001 in Köln ge-gründet hat, “ich höre Möglichkeiten. Und dann fangen wir an, alles zusammenzufügen, bis eine eigene Musik entsteht.”

Eine eigene Sinfonie, ein Zusammenklang. Ihre erste CD wurde von Helmut Zerlett, Harry Rowohlt und Sönke Wortmann unterstützt, ihre zweite CD ist in Arbeit, “Bad Times, Good Music” soll sie heißen. “Ich hab das irgendwann bleiben lassen mit den langfristigen Perspek-tiven”, sagt Fritz Habegger, der Bassist, “ich will einfach nur Musik machen.” Und diese Musik des Menschensinfonieorchesters ist, anders als der Name vermuten lässt, vom Blues ge-prägt, von Jazzharmonien und, dank seiner Mitglieder, den Einflüssen der Weltmusik. Keine heile Welt allerdings, kein klinischer Klang, stattdessen brechen Lebensgeschichten aus den Songs hervor, diese ganzen elenden Erfahrungen: Job verloren, Wohnung weg, sozialer Tod und Drogen, ein abgelehnter Asylantrag, ein kleiner Bruch oder all das zusammen. Die Welt-musik der Straße von Menschen, die auf der Straße leben. In der Nazi-Zeit wären sie als “rassisch minderwertig” verdammt worden.

Wer damals wie die Menschen im Menschensinfonieorchester war, ohne Wohnung und ohne Job, galt als “Volksschädling”. Armut und abweichendes Verhalten wurde zur “Erbkrankheit” erklärt, und die völkische Presse blies zur Menschenjagd: “Volksgenossen! Helft alle mit, dass die Bettler verschwinden! Unterstützt die Polizei, SA und SS in ihren Maßnahmen! Wir brau-chen unser Geld für die Anständigen und Gesunden!”

Zu Tausenden wurden Wohnungslose aufgegriffen, von Wohlfahrtsämtern aussortiert und vor Gericht gezerrt: “Der Angeklagte ist ein frecher, asozialer, arbeitsscheuer und hinterlistiger Mensch”, heißt es in einem Urteil von 1934, “ein Mensch solcher Veranlagung ist ein Schäd-ling am deutschen Volkskörper, der im heutigen Reich keinen Platz hat.” Also wurden andere Plätze geschaffen, überall im Land entstanden “Lager für geschlossene Fürsorge”, und im September 1933 stellte die Nazi-Presse das “erste Konzentrationslager für Bettler” vor. Eine Entschädigung wurde den Wenigen, die überlebt haben, so gut wie nie gezahlt und falls doch, dann 40 oder 50 Jahre später.

Das Konzert in der Christuskirche Bochum, von OB Ottilie Scholz eröffnet, erinnert an diese vergessene Geschichte – und ebenso daran, dass Neonazis in den letzten Jahren mindestens 17 Wohnungslose ermordet haben, unter ihnen den 49-jährigen Dieter Klaus Klein. Er wurde von Skinheads zu Tode getreten, weil er sich deren “Sieg-Heil”-Geschrei verbeten hatte.

Am Abend vor dem Konzert des Menschensinfonieorchesters referiert Wolfgang Ayaß über “Die Fürsorge der Nazis”, nämlich die Verfolgung der „Asozialen“ und „Arbeitsscheuen“, wie es im Nazi-Jargon lautet: „Nicht mehr das bedürftige Individuum stand im Mittelpunkt der Fürsorgepolitik, sondern die zu stärkende Volksgemeinschaft. Ziel war nicht die Integration der Unangepassten und Abweichenden, sondern deren Ausgrenzung und ‚Ausmerzung‘.“