3D-Test: Doppelstandard, Demokratie, Documenta 15
Kunst und Kultur flirten weiter mit dem Terror
Kunst, die Kunst boykottiert, ist keine. So wenig wie eine Demokratie, die Demokratie boykottiert, demokratisch ist oder ein Dialog dialogisch, wenn er den Dialog verweigert. Das ist so einfach zu begreifen wie die Tatsache, dass BDS, die Diffamierungskampagne gegen das demokratische Israel, eine zutiefst antidemokratische Bewegung ist, ihr ist die Freiheit der Kunst so egal wie die der Palästinenser. Und doch wird – so wie dieser Tage im Vorfeld der 15. Documenta, der international geachteten Schau für zeitgenössische Kunst – wieder und wieder debattiert, ob es nicht doch gehobene Kunst sein könnte, jüdische Kunst zu boykottieren. Es nisten sich Doppelstandards ein im Denken. Das Perfide daran ist, dass diese Dauerdebatte selbst jene Erinnerung in den Dienst gestellt hat, die den ermordeten Juden gilt: Ich zucke seit längerem zusammen, wenn ich das Wort von der „besonderen deutschen Verantwortung“ höre, die Israel gelte. Nicht, weil es eine solche Verantwortung nicht gäbe, sondern weil sie immer dann bemüht wird, wenn es so gar nicht um sie geht.
Im Mai 2019 hatte der Bundestag die Diffamierungskampagne gegen das demokratische Israel, BDS, nicht als antidemokratisch, sondern als antisemitisch verurteilt und nur deshalb, weil antisemitisch, als eine Bedrohung „auch für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung“. Die Abgeordneten beriefen sich bei ihrer Einschätzung auf eine „besondere historische Verantwortung“, die Deutschland gegenüber Israel habe. Was sicherlich stimmt, aber vor die Frage stellt: Wäre BDS okay, wenn es keine „besondere historische Verantwortung“ für Israel gäbe?
Wenn eine solche Verantwortung, anstatt in einem besonderen, lediglich in einem üblichen Rahmen läge, wäre es dann akzeptabel, israelische Künstler, Wissenschaftler, Sportler zu boykottieren? Lässt sich überhaupt eine Situation denken, in der Demokraten eine Demokratie boykottieren?
Wer für die Rechte der Palästinenser eintritt, hat einen übersichtlichen Lageplan: Dem Demokratie-Index der britischen Zeitschrift THE ECONOMIST zufolge liegt Deutschland auf Platz 14, Frankreich auf 24, Israel auf 27, Belgien auf 36. Palästina rangiert auf Platz 113, Jordanien auf 118, Iran auf 152 und Syrien auf 164 von 167 Plätzen.
Verhältnis von 1:15
Nimmt man die Demokratie-Matrix, die von der Uni Würzburg erstellt wird, liegt Deutschland auf Platz 5, Israel auf 35, das Westjordanland unter der Fatah auf 166 und Gaza unter der Hamas auf 168 von 176 Plätzen. Die beiden erstgenannten rangieren unter „funktionierender Demokratie“, die beiden letztgenannten unter „harter Autokratie“, dabei handelt es sich um Systeme, die, so die Würzburger Politikwissenschaftler, „die Freiheit völlig einschränken, eine grundlegende Gleichheit ablehnen und keine Kontrolle über die Machtausübung zulassen“.
Nun behauptet die BDS-Szene mit all ihren internationalen Künstlern, „wir können nur ändern, was wir konfrontieren“. Wenn sie denn also etwas ändern möchte, die Szene, müsste sie weniger Israel als das Fatah- und das Hamas-Regime „konfrontieren“ – und zwar, legt man den Index der Demokratiematrix zugrunde, in einem Verhältnis von 1:15.
In dem Fall wäre nichts zu sagen gegen eine Kampagne wie BDS – außer, sie würde, was sie ihrer eigenen Logik nach müsste, neben israelischen dann auch alle palästinensischen Künstler und Wissenschaftler und Sportler boykottieren, worin sich die Antipolitik zeigt, die darin liegt, kulturellen Austausch zu verhindern. Der Doppelstandard den BDS anwendet, klafft maximal weit auseinander:
Terror wird bejubelt oder beschwiegen, und zwar nicht nur der eliminatorische Terror gegen israelische Zivilisten, sondern ebenso der, den Fatah und PLO gegen ihre eigene Bevölkerung richten. Demokratie dagegen, die sich gegen Terror wehrt, wird denunziert.
„Maßstab sind stets Menschenrechte“
Dass dieser Doppelstandard – eines von drei Kennzeichen, mit denen sich Antisemitismus und „Israelkritik“ unterscheiden lassen (mehr zum 3D-Test hier und hier) – nicht nur antidemokratisch, sondern antisemitisch ist, weil er sich ausschließlich gegen jüdische Demokratie richtet und gegen israelische Künstler, ist derart offensichtlich, dass es in einer parlamentarischen Perspektive wie der des Bundestages gar nicht in den Vordergrund gerückt werden müsste.
Was dennoch dauernd geschieht. Und dies hat fatalerweise zu tun mit jener „besonderen historischen Verantwortung“, der sich die deutsche Demokratie stellt. Ein Beispiel:
Im Februar 2020 hat auch der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) „angesichts der Debatte um BDS“ eine Stellungnahme verfasst, der Text hat exemplarischen Wert: Zunächst ist darin von einer „doppelten Solidarität mit dem Staat Israel und dem palästinensischen Volk“ und ganz allgemein von „Verantwortung zwischen Partnern und Freunden“ die Rede:
„Maßstab ist dabei stets die Einhaltung der Standards der Menschenrechte und des Völkerrechts.“
Soweit klar, der Text wechselt hinüber in die Geschichte: „Für die Haltung der Evangelischen Kirche spielt die besondere historische Verantwortung Deutschlands (…) eine grundlegende Rolle. Sie ergibt sich für die Evangelische Kirche aus ihrem eigenen historischen Versagen gegenüber den Juden.“
D‘accord, weiter: „Israel hat für das deutsche Selbstverständnis seit Ende des Zweiten Weltkrieges eine fundamentale Bedeutung. Anhand von Israel reden wir immer auch über ‚uns‘ und ‚unsere Lehre‘ aus Auschwitz.“
Ja, kann man so sagen (abgesehen davon, dass Auschwitz keine „Lehre“ erteilt). Unmittelbar danach schweift der Blick in die Weltweite, der Rat stellt fest: „Dies“, das deutsche Selbstverständnis, „unterscheidet die Diskussion in Deutschland von der internationalen Debatte (…)“. Und dann diese Schlussfolgerung:
„Diese besondere Verantwortung der evangelischen Kirchen in Deutschland unterscheidet sich daher prinzipiell von der Position anderer Kirchen mit anderen historischen Erfahrungen und in anderen politischen Kontexten.“
Da ist er mit einem Mal dahin, der „Maßstab“, der doch stets angewandt werden möge.
Arbeit an der eigenen Irrelevanz
Unversehens gibt es – und es wird mit Auschwitz begründet – einen „prinzipiellen“ Unterschied zwischen der deutschen Verantwortung für die Einhaltung der Menschenrechte und einer internationalen Verantwortung für die Einhaltung derselben Menschenrechte.
Wenn man sich, auf der Suche nach diesem prinzipiellen Unterschied, einmal das absurde Agieren des absurd besetzten UN-Menschenrechtsrates besieht – derzeit mit Staaten wie China, Russland, Pakistan, Usbekistan besetzt, auf der Demokratiematrix rangieren sie zwischen Platz 123 und 172 – , bekommt man eine Ahnung davon, wie es um die internationale Debatte bestellt ist, die im EKD-Text angeführt ist: Zwischen 2005 und 2016 wurde Israel öfter „verurteilt“ als der gesamte Rest der Welt, die Menschenrechtslage in Israel sei, vertraut man den Vereinten Nationen, übler als in Syrien, übler als im Iran, in Nordkorea und China, in Russland und Gaza …
Während es in Israel zugeht wie in Belgien. Der EKD-Rat kann nicht viel für diese abstruse Situation und der Bundestag nicht viel dagegen. Umso mehr stellt sich die Frage, wieso erst Auschwitz herangezogen werden muss, um eine besondere Verantwortung für Israel zu formulieren. Als reiche die Gegenwart nicht hin: Israel ist der einzige Staat auf der Welt, mehr noch: die einzige Demokratie, die mit totaler Vernichtung bedroht wird. Der politische Alltagssound zeigt sich unberührt, er erheischt seine besondere Verantwortung aus der Geschichte heraus.
Es ist eine Verantwortung, die sich im selben Atemzug als deutsch kleinredet. Sie arbeitet, je mehr sie sich anruft, an ihrem eigenen Entschwinden.
Hier liegt einer der Gründe, warum die Tiraden, die der australische Historiker Anthony Dirk Moses gegen die deutsche Erinnerungskultur führt – dass sie von „Hohepriestern“ zu einer „Religion“ gemacht worden sei, der alle Menschen mit Macht unterworfen würden usw. – erstens so populär und zweitens so bösartig sind: Er stößt mit großem Geschrei, was sich selber längst klein gedacht hat und drischt wie besessen auf eine Strohpuppe ein. Die er dann umso besser als weltweite Macht aufplustern kann, von der er behauptet, ihr sei es gelungen, alle Erinnerungen an andere Völkermorde zu anderen Zeiten wie unter einer Decke zu ersticken.
Wenn dann aber der Bundestag den Boykott israelischer Waren tatsächlich mit der NS-Kampagne „Kauft nicht bei Juden!“ assoziiert und eben nicht mit einem örtlichen Boykott wie etwa dem gegen Shell oder Nestlé, dann, schrieb Moses, sei eine solche Assoziation, die ihm eben noch als global übermächtig galt, „provinziell“.
So geht das Spiel mit doppelten Standards.
„Bewusst in Kauf genommen“
Mal sehen, wie sich die Documenta dazu verhält, ob sie dieses Spiel aufnimmt oder aussteigt aus ihm. Sie trete, erklärte die documenta gGmbH, „als global wirkende Kunst- und Kulturorganisation für die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ein. Sie ist dem Grundgesetz und internationalen rechtlichen Konventionen verpflichtet. Darüber hinaus nimmt sie die Verantwortung, die aus der besonderen Geschichte Deutschlands erwächst, sehr ernst.“
Verantwortung für was nochmal? Der Aufsichtsratsvorsitzende der documenta gGmbH, der Kassler Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), hat dieser Tage erklärt, man müsse „Diskussionen um die Frage des Zusammenlebens von Israelis und Palästinensern aushalten“, so jedenfalls gibt DLF Kultur die Erklärung von Geselle wider: Mit der Berufung des kuratorischen Kollektivs Ruangrupa habe man „bewusst die Diskussion zu dem Thema – auch abseits der deutschen Staatsraison – in Kauf genommen. ‚Das war eigentlich auch allen klar, dass der Blick des Globalen Südens auf solche Fragen ein anderer ist‘, so Geselle.“
War allen klar? “Der Blick” des Globalen Südens? Schauen tatsächlich Milliarden Menschen durch ein- und dieselbe Brille? Könnte tatsächlich irgendwer, und sei es ein Kassler OB, in ihrer aller Namen sprechen? Einen derart identischen Blick – auf Israel, auf Auschwitz, auf Deutschland – zu behaupten und für die eigene Meinung in Dienst zu stellen, ist eine political appropriation im ganz großen Stil. Hinter Geselle sammelt sich dieser Tage vermutlich schon die erste Milliarde.
Nun denn, ab 18. Juni wird man sehen, ob die Kunst nicht doch in ihrem eigenen Namen sprechen möchte. Und was aus der Verantwortung wird, von der die documenta weiß, das sie „aus der besonderen Geschichte Deutschlands erwächst“. Nur wohin wächst sie, wer trägt Verantwortung für wen, für was?
Falls aus der Geschichte überhaupt etwas erwächst, dann sind es nicht Beuys’ Eichen, sondern eine Verantwortung für Demokratie statt Terror.