“Nichts geht voran”

Fehlfarben im Interview

Kurt Dahlke, Michael Kemner, Saskia von Klitzing, Peter Hein, Frank Fenstermacher, Thomas Schneider (vl) 2018 by (c) Olaf Rauch

Der Keyboarder und Saxofonist Frank Fenstermacher ist neben Sänger Peter Hein und dem Bassisten Michael Kemner eines der Gründungsmitglieder der legendären Post-Punk-Band Fehlfarben, aus der Traufe gehoben Ende der 1970er Jahre. Der Wuppertaler Musiker ist somit Protagonist eines der wichtigsten deutschsprachigen Rock-Alben, wenn nicht gar des herausragendsten Moments der deutschen Rock-Musik überhaupt: »Monarchie und Alltag«, das sowohl in musikalischer wie lyrischer Hinsicht bahnbrechende Debüt der Band aus dem Jahre 1980, unlängst wurde dem Album ein eigener Comic gewidmet. Zum zweiten Mal nach 2018 statten die Fehlfarben in diesem Oktober der Christuskirche in Bochum einen musikalischen Abstecher ab, im Gepäck haben sie die brandaktuellen Songs des neuen Albums mit dem bemerkenswerten Titel »?0??«, aber natürlich auch den einen oder anderen Klassiker aus dem umfangreichen Repertoire der Band, wie Frank Fenstermacher im Gespräch mit David Wienand und Bochum macht Spaß zu versprechen weiß.

Habt ihr euch zu Beginn eurer Karriere am Ende der wilden 1970-er Jahre jemals vorstellen können, irgendwann einmal an einem Ort wie der Christuskirche in Bochum live aufzutreten?

Ja, das wäre vermutlich auch 1979 denkbar gewesen, in einer protestantischen Kirche mit progressivem Vikar. Damals möglicherweise sogar eher als vieles andere.

Ihr seid nun bereits das zweite Mal nach eurem Auftritt 2018 in der Christuskirche in Bochum zu Gast. Was ist für euch das Besondere an einem solchen Auftrittsort?

Es ist ein schöner Raum, der ganz eigene Nähe und Resonanzen schafft. Wir werden dort deshalb aber nicht einen Hauch stiller sein als sonst. Die Kirche ist ja auch ein Mahnmal gegen den Krieg. Wo passen unsere Anti-Kriegssongs denn besser hin?

Die Zuschauer und Fans dürfen sich auf die Songs aus eurem neuen Studioalbum »?0??« freuen. Was hat es mit dem außergewöhnlichen Titel auf sich?

Diesmal haben wir uns für etwas mehr zeichenhaft Rätselhaftes entschieden: »?0??« beruht einerseits auf der Ähnlichkeit des Fragezeichens mit 2022, andererseits erleben wir gerade jetzt aber auch große Verunsicherungen, die sehr viele Fragen an uns stellen.

Ist in die neuen Songs zuviel hinein interpretiert, wenn man behauptet, sie drehten sich allesamt um die sowohl für alle Menschen, aber auch euch als Musikschaffende schwierigen Zeiten, die, so lassen sich die Fragezeichen im Albumtitel vielleicht auch deuten, doch noch nicht ganz hinter euch und uns allen liegen?

Genau. Hier ist die Antwort vorweg genommen. Es gibt immer weniger Gewissheiten und vieles ändert sich, an das man gewöhnt war, denn die Zukunft scheint angesichts der vielen von Menschen gemachten Probleme immer unvorhersehbarer und die Ängste und Unsicherheiten werden immer größer, so dass man den Spaß am Leben im Hier und Jetzt schnell darüber vergisst. Das wäre eine schlechte Voraussetzung für die Zukunft.

„Das Rennen macht müde“, so lautet ein Songtitel von »?0??« – wie viel von dieser Erkenntnis hat auch mit euch zu tun?

Nun, wir hatten das Glück, in einer Zeit aufzuwachsen, die noch nicht so extrem beschleunigt und vernetzt war, um zu sehen, dass es auch anders geht. Die Grenzen des Wachstums sind seit mehr als 50 Jahren bekannt, aber das ändert nichts an dem zerstörerischem Wettlauf um die Profite. Resignation liegt angesichts dieser, alle natürlichen Lebensgrundlagen vernichtenden Entwicklung in Verbindung mit dem Schwund unseres jugendlichen Elans natürlich nahe. Zudem fordert unser beherrschendes System ja von jedem heute noch die letzte Selbstausbeutung. Viel Grund also für ganz allgemeine Erschöpfung. Deshalb können wir, selbst wenn wir müde wären, nicht einfach aufhören gegen das Mitlaufen anzurennen. Dieser Sport muss sein. Wir geben die Hoffnung nicht auf.

Peter Hein, Fehlfarben 2018 in der Christuskirche by (c) Sabine Hahnefeld

Zwölf Songs sind auf »?0??« zu hören. Das in Verbindung mit der vermutlichen Albumtitel-Jahreszahl deutet auf ein einen Song für jeden Monat des Jahres ?0?? hin. Richtig vermutet?

Könnte sein, solange das Jahr noch 12 Monate hat, auch wenn die Stücke keine Jahreszeiten oder Sternzeichen beschreiben.

Gab es in den zurückliegenden Monaten des Stillstandes bei euch mal die Überlegung, die Brocken hinzuschmeißen und das bemerkenswerte Kapitel der Fehlfarben in der deutschen Rockmusik zu beenden?

Stillstand gibt es hoffentlich anderswo mal wieder, in der Nonsens-Produktion, im Wachstum des Kapitals, im Flugverkehr, in der Ausbeutung der Natur, bitte auch in der sinnlosen Digitalisierung, die uns noch mehr Lasten aufbürdet… aber lieber nicht bei uns. Angesichts der Tatsache, dass sich gerade in Zeiten des erzwungenen Stillstandes so viel Skrupellosigkeit, Verunsicherung, Panik und Unfähigkeit zeigt, gibt es, solange wir die Schuhe noch anziehen können, keinen  Grund, nicht weiter dagegen zu sein und die Bühne dafür zu betreten, auch wenn wir diesmal etwas länger darauf warten mussten.

Vor kurzem ist ein Song-Comic zu den Stücken eures Debütalbums »Monarchie und Alltag« erschienen und Bochum macht Spaß hat ihn seinen Leserinnen und Lesern im letzten Heft gerne vorgestellt, es ist im Ventil-Verlag erschienen. Inwiefern wart ihr in die Entstehung involviert und wie hat euch der Song-Comic gefallen?

Es hat totalen Spaß gemacht, die bildhaften Interpretationen jüngerer Leute zu unseren alten Kamellen zu erleben und so selber zum ersten Mal über das filmische der Texte nachzudenken. Es war sehr überraschend, welche Entwürfe andere Künstler dazu hatten.

Ganz bestimmt wollen viele Fans und Zuschauer auch in der Christuskirche in Bochum den einen oder anderen Song von diesem Album gerne wieder live hören. Ihr habt aber auch eine ganze Reihe von weiteren Alben seitdem veröffentlicht. Wie schwer fällt euch vor jeder Tour die Song-Auswahl?

Nun, dieses Mal ist es ja eine Tour zum neuen Album. Alles andere ist aber dennoch kein Beiwerk. Sicher wird es auch Stücke von der „Monarchie“, von „Xenophonie“, „Glückmaschinen“, „Übermenschen“, „Handbuch für die Welt“ und auch von der „Knietief“ dazu geben. Allerdings gibt es da so viele, wichtige Stücke, dass uns die Auswahl schwer fallen wird.

„Ein Jahr (Es geht voran)“ ist immer noch euer populärster Song. Wie erschreckend findest du es, dass er ins seiner wütenden Aussage heute noch genauso aktuell ist wie Ende der 70-er/Anfang der 80-er Jahre?

Es ist und bleibt erschreckend, welche Blüten der pure Populismus treibt und welche Macht die Medienkartelle über die Menschen haben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Diese Situation hat sich sogar verschärft. TV-Besitzer und Entertainer werden Diktatoren. Gegenstimmen finden kein Gehör und erhalten keine Macht. Nichts geht voran!

Alle Infos und Tickets zum Konzert hier auf dieser Seite (hier klicken)

“Nichts geht voran”: Fehlfarben 2018 in der Christuskirche by (c) Olaf Rauch