Ben Becker
Ich, Judas
“Der letzte Liebeserweis: Judas aus Kerioth küsst seinen Herrn. Und er, Jesus von Nazareth, sagte zu ihm: ‘Mein Freund.’” Und dann starben beide am selben Tag, der eine verehrt, der andere verhasst. Ihre Geschichte ist eine gemeinsame: „Judas ist nichts ohne Jesus, aber Jesus ist auch nichts ohne Judas“, schrieb Walter Jens. Ben Becker spielt “Ich, Judas” in jenen drei Tagen, die im Totensonntag münden.
Der Name steht für Verrat, wer ihn trägt, trägt ein Kreuz: Judas war ein Jünger Jesu. Seit Jahrhunderten wird erzählt, dass er es gewesen sei, der Jesus mit einem Kuss verraten und ans Kreuz geliefert habe – war es so? Ben Becker wird zu Judas und arbeitet sich – eng am Text von Walter Jens entlang – in das hinein, was überliefert ist. Daraus wird mehr als eine Rolle, der Fall Judas wird neu aufgerollt: Könnte es sein, dass dieser eine Mensch den Sündenbock geben musste … für was? Eine Sache, die aus dem Ruder gelaufen ist?
„Was war denn schon zu verraten“
fragt Judas uns, die wir uns nach und nach in ein Geschworenengericht versetzt sehen,
„Jesus‘ Aufenthaltsort? Aber den kannten doch Tausende. Sein großes Geheimnis, dass er Gottes Sohn sei? Aber das hat er doch selbst gesagt mitten unter den Leuten!“
Die Fragen werden mehr, die Zweifel nehmen zu. Beim letzten gemeinsamen Mahl am Abend vor beider Tod hat Jesus, so wird berichtet, seinen Jüngern erklärt:
“‘Einer von euch wird mich verraten: der, dem ich den Bissen eintauche und gebe.’ Und er tauchte den Bissen ein und gab ihn Judas.”
Nicht abzuweisen die Frage, wer hier aktiv ist und wer passiv, wer Täter, wer Opfer? Weiter heißt es:
“Und nach dem Bissen fuhr der Teufel in ihn.”
Kann das sein? Dass ein Stück Brot, von dem so viele bis heute glauben, dass sich in ihm die Gegenwart Gottes verdichte, kann dieses Stük Brot zu einem Transponder des Teufels werden? Von Jesus persönlich gereicht? Die Widersprüche nehmen zu, Walter Jens – Becker hält sich dicht an dessen Text – die Widerspüche gehen an die Substanz des Glaubens und an die Transsubstanziation, sie greifen den Glauben an und jenes Dogma, das im Zentrum der katholischen Messe steht.
Und nun? Judas – immer am Text von Walter Jens entlang – bietet uns diese Erklärung an für das Doppel, das Jesus und Judas geben:
“Wir waren Vertraute … Wir wussten, dass es eines Menschen bedurfte, um Jesus zu überliefern. Ein Mensch war vonnöten, kein Gott, um ein für allemal zu beweisen, wohin Menschen geraten, die – um ganz sie selbst zu sein – vor keinem Anschlag zurück schrecken, auch nicht vor dem Anschlag auf Gott.”
Diese “These”, so nennt Judas sie in Walter Jens’ kleinem Traktat, ist allerdings auch nicht so recht überzeugend: Um uns vor Augen zu führen, zu welchen Taten Menschen in der Lage sind, gab und gibt es Beweise genug, dazu musste nicht noch einer sterben. Und so steigen auch in Judas die Zweifel hoch – es ist genial, wie Ben Becker diese Zweifel verkörpert – und wird ihm nach und nach bewusst, dass die Geschichte logisch nicht aufzulösen ist.
Jedenfalls solange nicht, wie ihr gutes Ende immer schon vorausgesetzt wird. Sobald man heilsgeschichtlich denkt, also vom immer schon guten Ende her, wirds schief, weil alle und alles von vornherein auf die richtige Lösung hin ausgerichtet werden muss. Zum Ende hin – es ist das offene Ende unserer eigenen Geschichte – kommt Judas uns sehr nahe:
“(geht wieder auf die Zuschauer zu) Zum letzten Mal: ein bisschen Logik, wenn’s beliebt. Angenommen, ich hätte nein gesagt … gesetzt, ich hätte mich geweigert, wäre ich dann nicht – nur dann! – an Gott zum Verräter geworden? Bedenkt: Ohne Judas gibt es kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Kirche, ohne mich, den Überlieferer, keine Überlieferung der Botschaft, dass wir erlöst sind. Eine kleine Bewegung meines Kopfes, ein Schütteln statt eines Nickens, und Gottes Plan wäre … ein Nichts.”
Und dann schlagen die Zweifel über Judas zusammen:
“Und niemand, Herr, hätte uns Juden verfolgt … Kein Progrom, kein Lager, kein Gas …”
„Ich, Judas“ ist das Plädoyer für einen Verdammten, ein existentielles Plädoyer für einen, der ist wie wir. Am Ende des Tages sind beide tot, der eine am Kreuz, der andere am Baum, beide erhöht. Ben Becker ist “Ich, Judas” dort, wo beides seinen Ort hat, der Glaube und der Zweifel.
TEXT
Amos Oz | Judas, Kapitel 47 (Suhrkamp Verlag)
Walter Jens | Die Verteidigungsrede des Judas Ischariot (Radius-Verlag)
REGIE & INSZENIERUNG
Ben Becker
DRAMATURGIE
John von Düffel
ORGEL
Andreas Sieling
Eine Koproduktion von Ben Becker, Meistersinger und Christuskirche Bochum