urbEXPO
Vernissage
London, Singapur, New York. Die Städte dieser Welt wachsen in die Höhe, Bochum ist anders, hier wird die Tiefe erschlossen. Dritte Dimension, Dreiklang im Revier – ein vorzüglicher Ausstellungsort also, die alte Schlegel-Brauerei bei uns gegenüber. Ihre Keller wurden seit Jahrzehnten von kaum einem Lebenden betreten, zuvor allerdings haben alle in Bochum daraus geschöpft solange, bis sie leer getrunken waren. Schlegel war das Bier der Stadt. Unmittelbar neben dem Schlegelturm der lange Zeit höchste Punkt der Bierstadt, sinnreich auf eine andere Weise: der Turm der Christuskirche. Er verweist – so dachten es sich seine Erbauer im vorvergangenen Jahrhundert – “auf höhere Werte”, während man nebenan in den Schlegel-Hallen die Tiefe suchte im Glas. Mit der Christuskirche liegen wir just dazwischen, das passt. Ebenerdig.
Auch darum wird die urbEXPO im Schlegel-Haus nebenan – wie zuletzt immer – bei uns eröffnet. Dazu schreiben ihre Macher, Roswitha Schmid und Olaf Rauch:
urbEXPO 8: Vielfalt des Verfalls
Vom 1. bis 19. Mai 2019 zeigt die Ausstellungsreihe urbEXPO 19 fotografische Serien zu den Themen Verlassene Orte und Ästhetik des Verfalls in den verlassenen Räumen der ehemaligen Schlegel-Brauerei.
19 Fotografen und Künstler zeigen im Rahmen der urbEXPO 8 ihre fotografischen Positionen zu den Themen Verlassene Orte und Ästhetik des Verfalls. Die Ausstellung wurde von Olaf Rauch und Roswitha Schmid kuratiert.
Erstmals in der Geschichte der urbEXPO wird ein Publikumspreis ausgelobt: Die Besucher der Ausstellung stimmen über die beste Serie ab. Der Gewinner des Publikumspreises wird am 19. Mai 2019 um 18 Uhr in den Ausstellungsräumen bekannt gegeben.
Außer Konkurrenz zeigt die diesjährige urbEXPO ausgewählte Titelmotive der vergangenen Jahre und die Medieninstallation “Time – Evolution – Decay”, die sich mit den zentralen Themen der urbEXPO in Klang und Bild auseinandersetzt.
Seit 2012 widmet sich die Ausstellungsreihe urbEXPO einmal im Jahr mit einer Gruppenausstellung den Themen Verlassene Orte und Ästhetik des Verfalls. Wesentlicher Bestandteil des Gesamtkonzepts ist der authentische Veranstaltungsort, der über den Charme eines sogenannten Lost Place verfügt. Von 2012 bis 2014 war dies die Rotunde/ Alter Bochumer Hauptbahnhof. Seit 2015 ist die urbEXPO im Schlegel-Haus beheimatet.
Der jährlich erscheinende Ausstellungskatalog mit allen Exponaten der jeweiligen Ausstellung und begleitenden Texten ist seit 2013 fester Bestandteil der urbEXPO. Seit 2017 zeigt die Ausstellungsreihe ausschließlich Bildserien, die thematisch oder objektbezogen orientiert sind.
Inzwischen waren 75 Fotografen aus neun Nationen an den Fotografieausstellungen der urbEXPO beteiligt. Die Exponate sind in 30 Staaten auf vier Kontinenten entstanden.
Die Serien der urbEXPO 8
Michael Berndroth: »The abandoned houses of worship«
In kaum einem Land finden sich so viele verlassene Kirchen wie in Italien. Selbst in kleinen Dörfern warten prächtige Wunderwerke der Architektur auf ihre Entdeckung. Michael Berndroth hat sich auf die Reise gemacht, um diese verborgenen Schätze mit seiner Kamera zu bergen und festzuhalten.
Andrea Bienert: »Der Geist des Weines«
Italien, das Land von la dolce vita: Atemberaubenden Landschaften, Olivenhaine und Weinberge. Damals wie heute spielt der Wein eine große Rolle im Alltag der Italiener. Bei Streifzügen durch verlassene Villen und Gutshäuser inmitten der Lombardei spürt die Fotografin den letzten Lebenshauch einer vergangenen Zeit, in der die Menschen mit viel gutem Wein Feste feierten, geliebt und gelebt haben.
Kathrin Broden: »In the Attic«
Die Serie „In the attic“ beschäftigt sich mit den letzten Hinterlassenschaften, die oft noch auf den Dachböden von verlassenen Gebäuden zu finden sind. Wenn die eigentlichen Zimmer schon leergeräumt sind, sind dort oben noch die letzten Reste des einstigen Lebens zu finden.
Angela Carle: »Der Kohleverladeplatz«
Der Kohleverladeplatz wurde Anfang des 20. Jahrhunderts für ein Kraftwerk am Rhein errichtet. Mit Schiffen wurde die Kohle angeliefert. Dort entlud der große Querkran das Schiff und die Kohle wurde auf Güter- oder Kipploren geladen, die das Kraftwerk belieferten. Heute erinnert fast nichts mehr an den alten Kohleverladeplatz – nur der aufmerksame Beobachter entdeckt die Relikte der Zeit, die sich in der neuen Vegetation verbergen.
Nicole Felgenhauer: »Town Mansion«
Das Town Mansion ist ein beeindruckendes belgisches Stadthaus, das 1912 von einem reichen deutschen Ölhändler erbaut wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das luxuriöse Anwesen von einem Schiffsbauer übernommen und seit 1991 steht der mondäne Wohnsitz leer. Ein Verwalter versucht den stetig fortschreitenden Verfall des Lost Places zu bremsen.
Jeannette Fiedler: »Das verlassene Frauenzuchthaus«
Das Zuchthaus wurde 1862 als königlich sächsische Weiberzuchtanstalt gegründet. Zu DDR- Zeiten waren dort vor allem politische Häftlinge untergebracht. Es gab Zellen für Isolationshaft und Dunkelhaft. In der Arrestzelle wurden die Frauen gefoltert, indem man sie nackt stundenlang im kalten Wasser stehen ließ. Von oben ergoss sich kaltes Wasser auf die ausgekühlten Körper, ähnlich wie unter einer Sprinkleranlage.
Oliver Gerhard: »Kolmannskuppe Namibia«
Die einstige Diamantenstadt Kolmanskuppe in Namibia gilt als legendärster Lost Place des Kontinents. Die einstigen Villen, die Klinik und zahlreiche weitere Gebäude aus deutscher Kolonialzeit wurden im Laufe von Jahrzehnten von der Wüste Namib in Besitz genommen. Manche Räume sind bis zur Decke mit Sand gefüllt, andere wirken dagegen wie leergefegt, als ob die Naturgewalten sich nicht für sie interessierten. Einst gab es hier einen Ballsaal, ein à-la-carte-Restaurant, die erste Bibliothek des Landes und das erste Röntgengerät der südlichen Hemisphäre.
Katharina Haney: »Die verlassene Bahnstrecke«
Die Bahnstrecke wurde Anfang der 2000er Jahre stillgelegt. Die Brücke wurde in den 1890er Jahren erbaut und steht heute unter Denkmalschutz. Idyllisch gelegen in einem Wald in Thüringen, verirren sich nur wenige Leute hierher.
Marion Kehren: »Patarei – Gefängnis des Schreckens«
Die Anlage wurde 1840 ursprünglich als Festung erbaut und als Kanonenbatterie in Betrieb genommen. Als Estland 1918 in den Unabhängigkeitskrieg zog, wurde die Patarei erstmals als Gefängnis genutzt. Einzelzellen außen und innen lassen die Folter nur erahnen, die Todeszelle ist allgegenwärtig – erst 1991 fand hier die letzte Hinrichtung statt.
Annette Liese: »Durchblicke«
Zerbrochene, Graffiti-besprühte Fensterscheiben der Phoenixhalle auf Phoenix-West, Dortmund. Teilweise reflektiert das Glas die historischen Hochofentürme, den Gasometer, den Wasserturm und die Kühlturmskelette. Liese hat diese Impressionen mit ihrer Kamera eingefangen und farbenfroh umgesetzt.
Mona Moraht: »Feiner Zwirn«
Seit dem Mittelalter war in dem Dreiländereck Deutschland-Belgien-Frankreich die Herstellung von Textilien aus Wolle und Flachs für den Eigenbedarf selbstverständlicher Bestandteil des ländlichen Lebens. Viele ehrgeizige Tuchmacher siedelten ihre Betriebe außerhalb der Stadt an, um den strengen Zunftregeln zu entgehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann die Mechanisierung und damit die Ablösung der handwerklichen Tuchherstellung. Ihre Blütezeit erlebte die industrielle Tuchindustrie in der Dreiländerregion von Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mitte des 20. Jahrhunderts begann – vor allem durch Niedriglohnkonkurrenz aus anderen europäischen Staaten – der langsame Niedergang der Tuchproduktion in der Region.
Erik Oettinghaus: »Die Zeitreise …«
Inmitten eines gepflegten Neubaugebietes liegt das seit etwa zehn Jahren verlassene Bauernhaus. Das Gebäude ist komplett eingerichtet, die Schränke voller persönlicher Gegenstände, die Betten gemacht und ein modriger Geruch liegt in der Luft. Neben der Eingangstür ein Spülbecken mit Handpumpe, hier musste fließendes Wasser noch mit Muskelkraft gefördert werden. In der Küche steht ein Röhrenradio von 1944, durchlöchert vom Holzwurm. Nebenan befindet sich eine winzige, grüne Kammer mit drei Stühlen, auf dem mittleren thront ein leeres Vogelnest.
Eine verlassene Fakultät einer Universität in Belgien, die auf Bergbautechnik spezialisiert war. Nach dem Niedergang des Bergbaus in Belgien wurde die Fakultät geschlossen und liegt seitdem im Dornröschenschlaf. Zahlreiche Relikte und Überbleibsel aus der aktiven Zeit – Schriftstücke, technische Geräte und Installationen – wurden zurückgelassen.
Kristina Salm: »Magie des Lichts«
Licht ist in der Lage, einen besonderen Zauber zu verbreiten. Das gilt insbesondere in verlassenen Gebäuden. Wenn der Mensch gegangen ist, ist das Licht oft der einzige Besucher. Es hat die leeren und verfallenen Räume für sich allein, gestaltet sie und haucht ihnen wieder neues Leben ein: Es streift über zurückgelassene Gegenstände, malt Formen und Muster auf Böden und Wände und schafft ganze Räume aus Licht.
Frederik Schildberg: »Pyramiden«
Einst lebten und arbeiteten im norwegischen Pyramiden über 1.000 Menschen und förderten in einem der nördlichsten Orte der Welt Kohle im Auftrag Russlands. Hier zu arbeiten war begehrt. Dieses Privileg war nur den besten Bergarbeitern aus Russland und der Ukraine vorbehalten. Für maximal 2 Jahre durften sie dann mit ihren Familien hierher nach Spitzbergen ziehen. Erst Ende der 1990er Jahre wurde die Kohleförderung eingestellt und der Ort aufgegeben. Im Jahr 2000 verließen auch die letzten ständigen Einwohner die Stadt.
Christian Schmöger: »Borgo«
1927 thematisierte Mussolini den zerstörerischen Urbanismus, der das italienische Volk unfruchtbar machen werde. Hintergrund war wohl eher, die Landflucht zu verhindern und die Versorgung Italiens zu sichern. In den kommenden Jahrzehnten entstand ein gigantisches Programm zur Lebensmittelgewinnung im ländlichen Raum. Diese Thematik wirkte bis in die Nachkriegszeit – das Borgo ist ein Musterbeispiel dafür. Erbaut in der Nachkriegszeit inmitten einer Einöde mit musterhafter Architektur, bestechenden Ausblicken – die Nachbildung einer Musterkommune. Die angesiedelten Menschen aber waren entwurzelt – und verließen diesen Ort nach kurzer Zeit wieder.
Ivo Stalder: »Die Zeche«
Eine verlassene Schachtanlage, die von der Natur zurückerobert wird, von Schienensträngen durchzogen und in deren Hintergrund sich die markante Kulisse der Kokerei erhebt. Stalder fühlte sich bei seinem Besuch um die Jahrtausendwende in den Film „Stalker“ versetzt. Die Schlüsselszenen spielen in verlassenen und überwucherten Industrieanlagen, durchzogen von Schienensträngen, welche ins Herz der Zone führen. Kurz: Die Zeche im Ruhrgebiet ist wie eine Realität gewordene Stalker’sche Landschaft.
Iris Wieschermann: »Alltägliches Leben«
Verlassene Wohnhäuser sind fast überall zu finden. Die Gründe, warum sie aufgegeben wurden, sind vielfältig: Erbstreitigkeiten, plötzlich verstorbene Eigentümer ohne Erben, Insolvenzen und viele mehr. Wieschermann sucht diese Orte auf und hält die scheinbar alltäglichen Szenen fest.
Roman Zeschky: »D-Day«
2019 ist der 75. Jahrestag des D-Day, mit dem die Befreiung Europas von der Diktatur des Dritten Reiches begann. Der Angriff erfolgte auf einer Breite von 98 km zwischen Sainte-Mère-Église auf der Halbinsel Cotentin im Westen, und Ouistreham im Osten. Zeschky hat die noch erhaltenen Hinterlassenschaften des D-Day mit seiner Kamera besucht.
urbEXPO 8
Schlegel-Haus | 44787 BO
1. – 19. Mai 2019
1.5.2019 | 19 Uhr | Eröffnung, Christuskirche Bochum | Eintritt frei!
2.- 19.5.2019 | Ausstellung Mo-Fr 15-20 Uhr; Sa & So 12-18 Uhr | Eintritt: 3,- €
19.5.2019 | 18 Uhr | Verleihung des Publikumspreises im Schlegel-Haus