Roma Ligocka
Das Mädchen im roten Mantel: Lesung zum Tag der Befreiung
8,- Euro | ½ Preis für alle bis 25 Jahre | Kinder bis 14 Jahre frei | Für schulische Gruppen freier Zutritt“Im Ghetto ist es immer kalt, eiskalt, drinnen wie draußen. Drinnen gibt es nur den Küchenherd für alle und fast keine Kohle. Draußen liegt Schnee. Es gibt keinen Sommer im Ghetto, es gibt überhaupt keine Jahreszeiten und kein Sonnenlicht …
Wir stehen auf der Straße und frieren. Viele, viele Menschen. Überall sind viele Menschen. Die einen haben große Hunde, tragen Gewehre und passen auf. Sie schießen, auf wen sie wollen, vielleicht auch auf mich. Die anderen, das sind wir. Die Juden. Wir müssen warten, immer warten. Die mit den Gewehren haben goldene Knöpfe und schwarze, glänzende Stiefel, die im Schnee knirschen, wenn sie marschieren. Aber das hört man meistens nicht, weil sie so brüllen. Sie brüllen, wir gehorchen.
Wer nicht gehorcht, wird getötet. Das weiß ich genau, obwohl ich noch sehr klein bin. So klein, dass ich den Männern mit den glänzenden Stiefeln ungefähr bis ans Knie gehe. Wenn einer von ihnen neben mir steht und ich die schwarzen Stiefel an meiner Seite knirschen höre, die Hundeschnauze mit den scharfen Zähnen direkt neben meinem Kopf hechelt, fühle ich mich noch kleiner. Ich versuche dann, mich unsichtbar zu machen. Manchmal gelingt es mir wirklich …
Großmutter ist immer da. Wenn das Warten vorbei ist, bringt sie mich zurück in die Küche, sie zieht mir meinen roten Mantel aus. Es ist ein wunderschöner Mantel aus rotem, weichem Wollstoff, mit Kapuze. Sie hat ihn mir selbst genäht …
Auf der Straße liegen Koffer, Taschen, Bündel, ein umgekippter Kinderwagen. Großmutter zerrt mich weiter. Wir stehen wieder auf der Straße und warten. Jeden Tag stehen wir hier, jeder Tag ist gleich. Jede Nacht ist gleich. Schlaf gibt es nicht im Ghetto. Es gibt keine Abenddämmerung und kein Morgengrauen, nur die Stiefel, die die Treppe hochkommen, Hunde, die bellen, Männer, die brüllen. Türen, die aufgerissen werden, Menschen, die schreien, flehen, bitten, schimpfen, fluchen. Nie geht das Licht richtig aus, nie ist es still …
Immer dieselben Worte: KENNKARTE. ARISCH. Das ist Deutsch, hat meine Mutter mir erklärt. Die Bedeutung der Worte hat sie mir nicht erklärt, aber ich weiß, dass man diese beiden Dinge braucht, um zu überleben. Und dass wir sie nicht haben. Meine Mutter kann Deutsch verstehen. Ich hasse Deutsch. Man muss es brüllen, und es gibt nur ganz wenige Worte: HALT! LOS! SCHNELL! VORWÄRTS! KOMMALHER! AUFSTEHN! AUFMACHEEEN! …
Nachts kommen sie und holen uns. Jedes Mal, wenn ich die Stiefel auf der Treppe höre, das raue Hundegebell, die brüllenden Männer, denke ich das. Dann mache ich mich ganz schnell unsichtbar. … ‘KENNKARTEN!’, schreien sie. Die Hunde hecheln laut. … Dann sind sie weg. Es ist vorbei, denke ich erleichtert, sie haben mich nicht gefunden. … Aber dann höre ich sie wieder. Es ist nicht vorbei. Im nächsten Haus suchen sie weiter, und im übernächsten und im überübernächsten. Menschen schreien, Hunde bellen, Männer brüllen. So geht es die ganze Nacht. LOS, LOS! RAUS! WEITER! SCHNELL, SCHNELL! Wohin gehen sie alle? …
Ich stehe mit den anderen auf dem großen Platz und warte. Ich weiß nicht, ob es heiß ist oder kalt. Es gibt keinen Unterschied mehr. Ich habe meinen roten Mantel an und meinen kleinen Koffer dabei. Alle tragen schwere Koffer und Bündel, und alle haben Mäntel an und Mützen und Hüte auf dem Kopf. Es sieht so aus, als ob wir alle eine Reise machen. Aber wohin werden wir fahren? Niemand wagt es, die Männer mit den Stiefeln zu fragen. Sie kontrollieren die Papiere, sortieren die Menschen aus. Keiner von uns weiß, worauf wir warten … Manchmal versucht einer wegzulaufen. Wer weglaufen will, ist gleich darauf tot. … Wenn einer schreit, weint oder irgendein Geräusch macht, wird er auch erschossen. … Die Menschen werden auf große Lastwagen geladen. Die Männer mit den Stiefeln treiben sie mit Stöcken und Schlägen an. … Überall liegt verstreutes Gepäck, Koffer, Taschen, in Samt gebundene Bücher. Ich sehe in die toten Augen der Menschen, die neben mir liegen. … Ich mache die Augen zu, damit ich die Augen der Toten nicht sehen muss. Ich versuche wieder, mich unsichtbar zu machen, und es gelingt …
Meine Mutter zeiht mit den roten Mantel an, hockt sich vor mich hin und knöpft ihn sorgfältig zu. Ihre Hände zittern. … ‘Schnell’, sagt sie, als wir die dunkle Stiege heruntergehen, vorbei an der stinkenden Toilette. Ich halte mir die Nase zu, beeile mich, stolpere. Meine Mutter zieht mich weiter. Auf der Straße gehen Stiefelmänner auf und ab. Sie unterhalten sich, lachen. Ich bleibe stehen. ‘Schnell!’ Vorbei an den Stiefelmännern. Sie beachten uns nicht. Wir biegen in eine kleine Gasse ein, in einen Hinterhof. Auf dem nassen Pflaster sitzen gurrende Tauben. ‘Wir sind da.’ Sie zieht mich in eine Tür.”
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Roma Ligocka kam am 13. November 1938 als Roma Liebling in Krakau zur Welt.
Sie war zwei Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Familie ins Krakauer Ghetto ziehen musste. Von ihrer Großmutter erhielt sie einen roten Wollmantel. Dieses Bild vom kleinen Mädchen im roten Mantel blieb anderen Menschen, die im Ghetto lebenn mussten, im Gedächtnis. Jahrzehnte später berichteten sie Steven Spielberg davon, die Erinnerung an das Mädchen im roten Mantel wird – als einzige Farbe im Film – zu einem Motiv in “Schindlers Liste”. Anders aber als im Film hat das Mädchen die Vernichtung überlebt. Die kleine Roma hat die Vergangenheit vergessen – bis sie im Kino sich selber begegnet.
Ihr Sohn hatte sie überredet, mitzukommen zur Premierenfeier von “Schindlers Liste” in Krakau. Steven Spielbergs Geschichte über den Industriellen Oskar Schindler, der im Zweiten Weltkrieg hunderte polnische und tschechoslowakische Juden vor dem Tod bewahrte, lief im März 1994 an:
“Ich sehe das kleine Mädchen, und plötzlich steht mein ganzes Leben vor mir”,
sagt Roma Ligocka später. Geschockt stolpert sie aus dem Saal:
“Dieses Mädchen bin ja ich.”
Jahrzehntelang hat die heute 69-Jährige ihre Vergangenheit verdrängt, geschwiegen, versucht zu vergessen, es gelang ihr nicht: Schlaflosigkeit, Albträume. Und Angst. Zwei Jahre nach der Premiere von “Schindlers Liste” traf sie Steven Spielberg in Berlin, ein bewegendes Gespräch, daraufhin hat sie ihre Geschichte aufgeschrieben.
Das Buch erschien 2000 in deutscher Sprache, es wurde zum Bestseller und in insgesamt 25 Sprachen übersetzt.