Stephan Sulke
80 live
Liedermacher, ein wundervoll altmodisches Wort, es passt zu Reinhard Mey und Konstantin Wecker, wie geschaffen ist es für Stephan Sulke. Und zwar nicht, weil das Wort daran erinnert, dass es eine Zeit gegeben hat, in der Intelligenz noch künstlerisch war statt künstlich, sondern weil Liedermacher bedeutet, dass es die Lieder sind von Stephan Sulke, die etwas mit einem machen.
Und das an diesem Tag in Bochum. Dem letzten Abend von Rosch Haschana, dem jüdischen Neujahrsfest. Dem Vorabend des 7. Oktobers, dem Tag, an dem vor einem Jahr das größte Massaker an Juden seit dem Holocaust verübt worden ist, ein Morden von unvorstellbarer Bestialität. Stephan Sulke stammt aus jüdischem Haus, seine Eltern sind den Nazis aus der Fasanenstraße in Berlin ins ferne Shanghai entkommen. Dort, im Exil, kam er 1943 zur Welt, er weiß, Hamas hat ihn mitgemeint. Und wundert sich über die Reaktion des hiesigen Kulturbetriebs, „die deutschen Künstler (nicht alle, aber fast)“, schrieb er im Oktober 2023 auf seiner Facebook-Seite, „zeigen eine erbärmliche Feigheit sowie einen schmierigen Opportunismus. Leute, ich weiß, wie die meisten von Euch denken. Warum so still?“
Die Frage dauert an. Warum so still. „Ich persönlich stehe offen zu Israel und zu allen Juden weltweit“, schrieb Sulke weiter: „Aber ich bin vielleicht kein Künstler. Ende.“
Ein bitteres Wort. Aber kein Ende. Der Abend in Bochum zeigt den Stephan Sulke, dem so viele, auch viele Künstler, so viel verdanken. Lieder, die mit einem flirten ein Leben lang, Sulke war immer einer, der sich nicht gemein gemacht hat, er ist mehrsprachig aufgewachsen in der Schweiz, in between würde man heute salbungsvoll sagen (und er sicherlich nie). Mit 14 kauft er sich von seinem zusammengespartem Geld eine Gitarre, bringt sich Akkorde bei, lernt das Klavier und beginnt zu komponieren. 1963 erscheint in Frankreich seine erste Single, mit “Mon Tourne-Disque” gewinnt er auf Anhieb den Grand Prix du Premier Disque, den Preis überreicht ihm kein Geringerer als Maurice Chevalier, der große Entertainer und Grandseigneur des Chansons. Sulke nimmt den Preis entgegen, es passt.
Für einige Zeit geht er anschließend in die USA, lernt das Musikbussines kennen, zurück in der Schweiz baut er ein Tonstudio auf, studiert nebenher, 1976 erscheint “STEPHAN SULKE” mit dem großartig schönen, wundersam traurigen „Lottchen, weißt du noch“. Sulke ist 33, als er den Preis des besten “Nachwuchskünstlers des Jahres” empfängt. Während andere mit seinen Songs große Erfolge einfahren, sein “Ich Hab’ Dich Bloß Geliebt” beispielsweise interpretiert Herbert Grönemeyer auf dem ´83er Album.
Ein Jahr zuvor, 1982, war „Uschi“ erschienen, Sulkes Lied klingt aufdringlich harmlos, der Text ist von feinster Giftigkeit, “Uschi” belegt Spitzenplätze in den deutschsprachigen Charts. Andere seiner Lieder erschaffen eine Gemeinde, die sich um ihn schart, „Tom“ zählt dazu und „Der Mann aus Russland“, ein eigenartig zeitloses Lied, von der Wirklichkeit längst überholt und ihr womöglich voraus. 1989 kehrt Sulke, ganz für sich, der Musikbranche den Rücken.
Und kehrt zehn Jahre später wie aus dem Nichts zurück. „Niedagewesenheit“? Nichts davon, neue Lieder, neue Alben, eines heißt „Liebe ist nichts für Anfänger“, Lieder von Stephan Sulke sind es ebenso wenig. Alle sind sie ausgestattet mit den Sulke-Kennzeichen: eine schwyzerisch-schnurrige Sicht aufs Weltgeschehen aus einer eminent privaten Perspektive. „Meine Musik“, sagt er, „war immer eine Mischung aus Sarkasmus, Melancholie und etwas Blödelei“.
Und diese Mischung an diesem Abend? Dem letzten Tag des jüdischen Neujahrsfestes, an dem sich erstmals 10/7 jährt, das Gedenken an die mehr als 1200 arglosen Zivilisten, die Hamas hingeschlachtet hat?
Ja, an diesem Abend singt Stephan Sulke. Sein Sarkasmus, seine Melancholie, seine Blödelei sind wertvoll wie nie. Warum so still?
Sulke singt.