Tag der Befreiung
Im September 1941 gelingt es Pessia Aranowitsch, aus Ponar zu entkommen, einer parkähnlichen Landschaft südlich von Wilna, wo deutsche Kommandos massenmorden. Schwerverletzt berichtet sie ihrem Arzt, dass Ponar kein Erholungspark sei, sondern ein Massengrab:
“Sie bringen sie alle um, alle Juden.”
Darauf Dr. Ginsberg:
“Alle Juden? Aber ich bitte Sie, das ist doch nicht möglich, warum sollten sie alle Juden umbringen?”
Diese Reaktion erlebt, wer überlebt hat, sein Leben lang, schrieb Primo Levi nach seiner Befreiung, es sei ein wiederkehrender Albtraum: dass niemand hört, was berichtet wird, dass niemand den Zeugen glaubt. Warum nur sollten alle umgebracht haben, alle Juden, alle Sinti, alle Roma?
Die Frage erschüttert bis heute eine Gewissheit, die jedem Tun und Denken zugrunde liegt: die Gewissheit, dass sich Interessen ausmachen lassen, irgendeine Zweckmäßigkeit, ein noch so erbärmliches Motiv. Es gibt das alles nicht, es gibt keine Ratio in diesem Morden.
Zwar lässt sich beschreiben, wie das System der Vernichtung funktioniert hat, der Zivilisationsbruch lässt sich damit nicht kitten. Wie eine Welt begreifen, in der es normal war zu morden und blinder Zufall, wenn Einzelne überlebten?
Und doch hat es hat diese Welt gegeben, seitdem hat sich Erinnerung verändert. Ihr Nostalgiefaktor trügt, Erinnerung ist etwas, das so noch nie zu fürchten war.
Unerträglich der Versuch, dem unerträglich sinnlosen Leiden sich einzufühlen. Was Millionen von Menschen erfuhren, bleibt der Erfahrung heute versperrt. Und doch wäre diese Distanz zu überwinden, wenn anders Auschwitz zum Mysterium würde und die Erfahrung der Opfer im Off der Geschichte entsorgt.
So unmöglich es ist, sich zu erinnern, als sei es das eigene Erleben, so notwendig ist der Versuch, sich einer Erinnerung wenigstens anzunähern.
Chronologie 2024 – 2001
2024 | ALL ABOUT JOEL
Was hören wir in den Songs von Billy Joel, die es nicht gäbe, hätten die Nazis gewonnen. Oder die Hamas
2021 | DIE GESCHICHTE DER JÜDISCHEN FAMILIE SPRONZ
Von 1492 bis zur Gründung des Staates Israel 1948 | Online-Meeting
2020 | RAT DER STADT LIEST DIE NAMEN DEPORTIERTER BÜRGER
Eine Erinnerung der Bochumer Familien an dem Ort, der Bochums Bürgerschaft heute repräsentiert
2019 | GEDENKSTUNDE IN DER SYNAGOGE BOCHUM
Sie waren Kinder, die ermordet werden sollten, sie sind entkommen, sie sind die letzten Zeugen
2018 | CHRIS HOPKINS’ GYPSY SWING & ART TONE TRIO
“Wir müssen uns um die Stimmung in unserer Stadt kümmern”. Bochums Kultur gegen antisemitischen Hass
2017 | TEREM QUARTET
Der stille Völkermord: Leningrad
2016 | SIMONE VEIL | 1927 – 2017
[Absage wg. Erkrankung]
2015 | GIORA FEIDMAN
“Eine Stimme geben denen, die überlebt haben”
2014 | THEODOR MICHAEL | 1925 – 2019
“Deutsch sein und schwarz dazu”
2013 | GYÖRGY KONRÁD | 1933 – 2019
“Glück – elutazás és hazatérés”, Hinreise und Rückreise
2012 | JUDITH KERR | 1923 – 2019
[Absage wg. Erkrankung]
2011 | KROKE | KOSMOPOLEN
Verfolgung und Widerstand der Polen
2010 | MARIANNE UND PETRA ROSENBERG
Verfolgung und Widerstand der Sinti und Roma
2009 | MARCEL REICH-RANICKI | 1920 – 2013
[Absage wg. Erkrankung]
2008 | ROMA LIGOCKA
“Das Mädchen im roten Mantel”
2007 | ELLA MILCH-SHERIFF
“Ist der Himmel leer?”
2006 | MENSCHENSINFONIEORCHESTER
“Schwarzer Winkel: Verfolgung von ‘Asozialen’”
2005 | SCHÖNBERG – MAHLER – WEILL
“Verfemte Musik”
2004 | MICHAEL DEGEN
“Nicht alle waren Mörder”
2003 | BENTE KAHAN
“Home – Jüdische Lieder Europas”
2002 | COCO SCHUMANN | 1924 – 2018
“Der Ghetto-Swinger”
2001 | GIORA FEIDMAN
“Dance of Joy?”
„Es ist die Stille, die irritiert“ | 2024
Kein Aufschrei der Kultur nach den Massakern der Hamas. Während sich die Juden auch dieser Stadt nur mit Vorsicht auf die Straße wagen, die Davidsterne verborgen, die Kippa sowieso. „Es ist die Stille, die irritiert“, sagt Thomas Matiszik, er ist Kopf und Leadsänger der Band All About Joel: „Was hören wir eigentlich, wenn wir Popmusik hören und Songs wie die von Billy Joel?“ Der US-amerikanische Superstar hat einen großen Teil seiner Familie in den Lagern verloren, hören wir eine solche Erfahrung in seinen Songs?
Am Beginn des Abends: die Namen der 597 Bochumer, die – großteils an einem 27. Januar – in den Tod deportiert worden sind, gelesen von Barbara Jessel, grüne Kulturpolitikerin, Aysel Osmanoglu, Vorständin der GLS-Bank, und Thomas Steinberg, WDR-Musikjournalist. Und dann, Song für Song, das Glück, der Schmerz des Überlebens.
» Texte und Songlist des Abends (pdf)
“Wir haben uns selber deportiert” | 2020
Der Rat hat unsere Initiative aufgegriffen und die Namen der 597 Bochumer gelesen, die von Bochum aus in den Tod deportiert worden sind. Ruhig, konzentriert, nachdenkend. 597 Bochumer Namen, darunter Familien mit vier Mitgliedern, mit fünf, sechs, sieben, acht …
Anschließend Bebauungspläne, Entlastungstarife, Wettbewerbsverfahren. Politischer Alltag. Was ein solcher Prolog für diesen Alltag bedeutet: Verlässlichkeit. Zu wissen, dass da Leute sitzen, die bereit sind, ihr Tun und Entscheiden zu verantworten. Nicht „vor der Geschichte“, das kann niemand ernstlich können, sondern vor sich selbst.
Demokratie tut sich seit jeher schwer damit, zivilreligiöse Momente aus sich selber heraus freizusetzen, dies war einer.
Bochum gegen Hass | 2018
Der Tag der Befreiung steht stellvertretend für Hunderte Tage, an denen Tausende Lager befreit worden sind, Ghettos und Folterkeller gab es überall in Europa. Und überall in Europa bricht heute, ein Menschenleben später, der Hass neu auf. Der Hass auf Juden, auf Sinti und Roma, auf alle, deren „Existenzrecht“ auch mal in Frage gestellt wird, so wie man es mit dem der Israelis tut.
Die öffentliche Stimmung verändert sich, Ende 2017 hat die Jüdische Gemeinde Bochum ihren Mitgliedern geraten, auf den Straßen dieser Stadt keine Kippa mehr zu tragen.
„Das habe wir uns nicht vorstellen können, dass es in Bochum dahin kommt. Wenn wir das akzeptierten, gäben wir uns selber auf.“
Aus der Bestürzung Einzelner wurde ein Abend vor vollem Haus, das Statement einer Stadt. Mit Chris Hopkins und Esther Münch, Joscho Stephan und Janet Boram Lee, Thomas Anzenhofer und Louisa Spahn, Thomas Eiskirch und Gerald Hagmann, Ursula Hrdinova und 850 Bochumerinnen und Bochumern.
Der Abend selber war als Hommage an Coco Schumann angelegt, an diesem Abend starb Coco in Berlin. Zichrono livracha, möge sein Gedenken ein Segen werden.
Terem Quartet | 2017
Sankt Petersburg ist so groß wie das Ruhrgebiet — ist es vorstellbar, eine Millionenstadt „vom Erdboden verschwinden zu lassen“? Eben dieser Befehl ergeht im Dezember 1940, deutsche Militärs entwickeln eine Idee: Könnte man Leningrad nicht abriegeln wie ein KZ, dann die Lagerhäuser zerstören, dann die Energie- und Wasserwerke, dann abwarten?
900 Tage hat gedauert, was heute zur „Blockade“ verniedlicht wird: Die „Blockade von Leningrad“ war ein Genozid, die Stadt sollte nicht zur Aufgabe genötigt, sie sollte ausgehungert werden. Weit über eine Million Menschen wurden ermordet. Das Terem Quartet aus St. Petersburg — das berühmteste Folk-Quartet Russlands — erinnert ein unermessliches Leid. Ist diese Erinnerung eine gemeinsame, eine europäische? // Wegen Erkrankung eines Mitglieds des Ensembles musste das Konzert zwei Tage vorab abgesagt werden.
Giora Feidman | 2015
Dass die Ermordung der Juden Europas gestoppt werden konnte, ist ein Menschenleben her. Die Zeitzeugen sterben – im selben Moment bricht in Europa ein neuer Antisemitismus auf. Bei den Terroranschlägen in Paris waren sechs der Opfer Juden. “Es ist eine Frage der aktuellen Politik geworden, ob wir die Erinnerung bewahren oder nicht”, sagte Superintendent Peter Scheffler zur Eröffnung:
“Früher haben die Bergleute, wenn sie einfuhren, Kanarienvögel mitgenommen. Kanarienvögel reagieren sensibel auf giftige Gase, sie sterben als erste, bevor alle anderen sterben. ‘Wir Juden sind die Kanarienvögel der Gesellschaft’, sagte jetzt René Bouzier, der in Paris lebt. ‘Wenn wir angegriffen werden, ist es ein Zeichen dafür: Die ganze Gesellschaft ist in Gefahr.’ – Ja, das ist so. Wir sind in Gefahr. Deshalb erinnern wir uns.”
Vor 15 Jahren hatte Giora Feidman die Reihe “Zum Tag der Befreiung” eröffnet, zum 70. Jahrestag der Befreiung spielt er, fast 80-jährig, erneut, seine Klarinette erinnert das Lachen derer, die nicht mehr lachen können, ihre Freude, ihre Klage, die Stille.
Theodor Michael | 2014
Als die Nazis 1935 ihr “Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes” erlassen, ist Theodor Michael 10 Jahre alt. Sein Vater stammt aus Kamerun, der ehemals deutschen Kolonie, seine Mutter aus dem preußischen Posen, plötzlich gilt der Berliner als “artfremd”. Seine Geschwister schaffen es, aus Nazi-Deutschland raus zu kommen, er selber bleibt, auf sich allein gestellt, in Berlin zurück. Ohne Pass, ohne Ausbildung und ohne Chance unterzutauchen:
“Wohin hätte ich schon flüchten können mit meinem Gesicht?”
Er tritt die Flucht nach vorne an und spielt als Komparse in Ufa-Filmen mit, in denen sich Nazis als “Herrenvolk” inszenieren. 1943 wird er zur Zwangsarbeit in ein “Fremdarbeiter-Lager” eingewiesen – als einziger Deutscher unter den vielen Europäern:
“Ich passte wieder einmal nirgendwohin. Für Leute wie mich hatten nicht einmal die Nazis eine Schublade.”
Theodor Michael überlebt die Zwangsarbeit, die Willkür, den Hunger – und macht, kaum befreit, die bittere Erfahrung: Die Nazis sind weg, ihr Rassismus ist geblieben. Er kämpft sich durch, studiert, etabliert sich als Journalist und wird schließlich von “meinem schwierigen Mutterland” in seinen Dienst berufen – “als erster schwarzer Bundesbeamter im höheren Dienst”.
Ein deutsches Jahrhundert. Erst jetzt hat der Elder Statesman der afrodeutschen Szene, 89 Jahre alt, seine Geschichte erzählt: “Deutsch sein und schwarz dazu”.
» Hintergrund 1: “Hagenbecks Traum”
» Hintergrund 2: “Fabris Hoffnungsbild”
» Hintergrund 3: “Carl Peters Wünsche”
György Konrád | 2013
Ein großer Schriftsteller, ein großer Europäer: György Konrád, 1933 in Berettyóújfalu im östlichen Ungarn geboren, war Präsident des Internationalen P.E.N. und Präsident der Akademie der Künste, hat international höchste Ehrungen erhalten, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den Karlspreis, den Orden der französischen Ehrenlegion. Seit 69 Jahren hätte Konrád ermordet sein sollen.
Im März 1944 – die Deutschen hatten Ungarn besetzt, innerhalb weniger Wochen wurden Hunderttausende Juden deportiert, jedes dritte in Auschwitz ermordete Opfer stammte aus Ungarn – im März 1944 taucht der 11jährige György zusammen mit seiner Schwester in Budapest unter.
Dass sie überlebt haben, verdanken sie ihrem Mut und Menschen wie seiner Tante Zsófi und dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz, der ihnen fingierte Pässe ausstellt: Eine dieser gestempelten Phantasien schützt Konrád davor, deportiert und vergast zu werden. Auschwitz, schreibt er 65 Jahre später, sei „wichtigster Orientierungspunkt meines Denkens“.
» “Europa ist ein Roman”
» “Wenn das Leben heilig ist”
» “Ein europäisches Gefühl” | Review 1
» “Ein europäisches Verstummen” | Review 2
Kroke: Nadejda dobre Czasy | 2011
“Es kommen gute Tage, sicher kommen sie. / Der Frieden wird Früchte tragen / Die Leute in Auschwitz werden nicht glauben / Den schrecklichen Worten meiner Gedichte.”
So schloss der Abend, mit einer langen Stille nach Kazimierz Dabrowskis Gedicht Nadejda dobre Czasy. Eingeladen hatten wir zusammen mit den Kosmopolen, Emanuela Danielewicz hatte das Programm kuratiert: Krokes bildhafte Musik unterbrochen mit Werken von Charlotte Delbo [1913 -1985], Denise Rioual [Lebenszeit unbekannt], Krystyna Zywulska [Auschwitz 1944], Anne Marie Fabian [1920 – 1993] und Kazimierz Dabrowski [Auschwitz 1944]. Das Abendprogramm:
Mehr als sechs Millionen polnischer Bürger wurden ermordet, drei Millionen von ihnen waren Juden. Weit über eine Million Polen wurde zur Zwangsarbeit verschleppt, viele von ihnen ins Ruhrgebiet. Vier Vernichtungslager wurden in Polen errichtet, vier Konzentrationslager, 1798 Arbeitslager: Kein anderes Land wurde derart von Deutschen heimgesucht wie Polen.
Am 19. April 1943, dem Vorabend des Passah-Festes, begann der Aufstand gegen die Barbarei, er begann mit dem Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto. Im August folgte der Aufstand im Vernichtungslager Treblinka, im Oktober der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor. Der Warschauer Aufstand begann im August des folgenden Jahres und im Oktober der Aufstand in Auschwitz selbst. In mehr als 100 Lagern und Ghettos hat es Aufstände gegeben, überall in Europa haben Partisanen gekämpft.
Marek Edelman, der 2009 verstorbene Kommandeur des Aufstands im Warschauer Ghetto: “Was hier begonnen hat, war der Anfang von dem, was in den Ruinen von Berlin geendet hat.”
DANK AN Emanuela Danielewicz, Joanna Stanecka und Frank Wickermann [Lesungen] sowie an Polnisches Institut Düsseldorf und Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit / Projekt wspierany przez Fundacje Wspolpracy Polsko Niemieckiej.
Marianne Rosenberg, Petra Rosenberg, Ferenc Snétberger | 2010
Für Petra und Marianne Rosenberg war es ein schwerer Abend, überschwer. Auch für Ferenc Snétberger. Wie anderen davon erzählen, was es bedeutet, wenn von der eigenen Familie 51 Mitglieder ermordet worden sind?
Es lindert keinen Schmerz, den eigenen Schmerz öffentlich zu machen. Dennoch hatten wir sie gebeten, den Tag der Befreiung öffentlich zu begehen. Wer anders als sie könnte berichten? Wer wenn nicht wir sollte hören?
Sie wollten nicht, dass jemand Eintritt zahle. Anstelle eines Vorverkaufs hatten 800 Zuhörer darum gebeten, zuhören zu können und daraufhin einen Brief von uns bekommen, diesen:
“Wir waren seit jeher, solange ich denken kann und nach allem, was mir erzählt worden ist, deutsche Sinti.”
Otto Rosenberg wurde 1927 in Ostpreußen geboren und wuchs in Berlin auf. “Wir waren nicht reich, wir hatten das Nötige, wir haben in Frieden gelebt.”
Und dann eines morgens, “es kann früh um vier, fünf Uhr gewesen sein, wurden wir durch SA und Polizei aufgeschreckt: ‘Los, anziehen! Schnell, schnell!’ Ich war gerade neun Jahre alt geworden.”
Familie Rosenberg wird in Marzahn in ein Lager gesperrt, Tausende werden von hier aus in die KZ verschleppt. Kurz vor seinem 16. Geburtstag sitzt auch Otto Rosenberg in einem Zug voller Kinder,
“fein gekleidet, mit Stullentäschchen und Mappen. Sinti-Kinder, Roma-Kinder, ich weiß es nicht. Süße Gesichter, alle so sechs, acht Jahre alt, der ganze Waggon war voll. So kam ich in Auschwitz an.”
Otto Rosenberg hat Auschwitz überlebt, Buchenwald, Dora, Bergen-Belsen. Bis zu seinem Tod 2001 kämpfte er für die Rechte der Sinti und Roma, ihre Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes. Heute ist Petra, seine älteste Tochter, Vorsitzende des von ihm gegründeten Landesverbandes deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg:
“Die überlebt haben, sind durch ihre traumatischen Erfahrungen so nachhaltig geschädigt worden, dass ihr Vertrauen in die bundesrepublikanische Gesellschaft gestört ist. Aber auch das Bewusstsein der zweiten und dritten Generation ist von der Erfahrung geprägt, Teil einer Minderheit zu sein, die von der völligen Vernichtung bedroht war und immer noch in hohem Maße unter Diskriminierung zu leiden hat.”
Marianne Rosenberg verkörpert wie kaum eine andere Sängerin die Entwicklung des deutschen Pop. Seit drei Jahrzehnten kennt man ihre Lieder, über ihr Leben ist wenig bekannt:
“Mein Weg erschließt sich aus der Geschichte unserer Familie”, schreibt sie in ihrer Autobiographie Kokolores: “Die Schicksale derer, die nicht überlebt hatten, begleiteten uns.”
“Sing’ mit dem Herzen”, hatte ihr der Vater immer gesagt. Es wird ein sehr persönlicher Abend werden, an dem Marianne Rosenberg und Petra Rosenberg an ihn erinnern. Er hat den Tag seiner Befreiung erleben können, 500 000 Sinti und Roma wurden in der Nazi-Diktatur ermordet.
Ihnen hat Ferenc Snétberger ein Concerto für Gitarre und Orchester gewidmet, In Memory For My People wurde 2007 im Haus der Vereinten Nationen in New York uraufgeführt. Snétberger zählt zu den Großen seines Fachs, ein Weltbürger der Musik, er improvisiert, interpretiert und begleitet Marianne Rosenberg bei ihren Chansons.
Roma Ligocka: Das Mädchen im roten Mantel | 2008
„Wer nicht gehorcht, wird getötet.“ Zwei Jahre ist Roma alt, als sie von den Deutschen ins Krakauer Ghetto gesperrt wird. „So klein, dass ich den Männern mit den schwarzen Stiefeln ungefähr bis ans Knie gehe.“
Ihre Großmutter hatte ihr einen roten Mantel genäht, darin wandelt sie wie eine Erscheinung „zwischen den schwarzen Stiefeln hindurch“ – ein Bild, an das sich Überlebende des Krakauer Ghettos erinnert haben, Steven Spielberg formt das Bild zu einem zentralen Motiv in „Schindlers Liste“: In dem sw-Film taucht der rote Mantel als einziges Farb-Moment auf.
Anders aber als im Spielberg-Film hat das Mädchen im roten Mantel überlebt. Roma Ligocka hat uns ihre Geschichte erzählt – eine wunderbare Frau mit der Fähigkeit, das Entsetzliche zu erinnern, indem sie Wärme in die Erinnerung legt, ihren Charme und ihre ganze Schönheit.
>> Nachbericht “Die kleine Erdbeere” ROMA LIGOCKA_WAZ [pdf]
Ella Milch-Sheriff | 2007
„125 Zentimeter. So hoch und so breit war das Erdloch, das der Arzt Baruch Milch im Sommer 1942 grub. 125 Zentimeter, in die er hinab stieg, um darin zusammen mit seiner Frau und der Familie seines Schwagers zu leben. 125 Zentimeter lang waren auch die Karabiner, mit der die deutschen Besatzer oben, im Tageslicht, Europa um- und umgepflügt haben. 125 Zentimeter – so hoch wie der Korpus des Cellos, das Sie hier sehen … Erinnerung hat ihr Maß am Unmaß der Trauer, am unermesslich sinnlosen Leiden, sie hat ihr Maß am Maßlosen, an 125 Zentimetern.“
So eröffnete der Abend, die israelische Komponistin und Sängerin Ella Milch-Sheriff hatte dies selber erst nach dem Tod ihres Vaters erfahren. Dass er eine erste Familie gehabt hat – seine Frau Luisa und sein dreijähriger Sohn von den Deutschen ermordet – und dass er selber jahrelang in einem Erdloch überleben musste.
Seine Tochter, 1954 in Haifa geboren, findet das Tagebuch ihres Vaters, 2003 komponiert sie auf Basis dieses Tagebuchs das Stück “Ist der Himmel leer?” Eine Kantate für Mezzosopran, Sprecher und Kammerorchester unter Verwendung von Teilen des Gedichts „Engführung“ von Paul Celan, gespielt von den Bochumer Symphonikern.
Menschensinfonieorchester | 2006
„Der Angeklagte spielt Mundharmonika und singt gewerbsmäßig auf öffentlichen Straßen.“ Im Juni 1940 wurde der 59-jährige Ernst Rutzen wegen „Bettelei, Landstreicherei und grobem Unfug“ ins KZ verschleppt. Wie ihm erging es mehr als 10.000 Wohnungslosen. Polizeichef Heinrich Himmler: “Jeder Bettler, der arbeitsscheu ist, ist sofort einem Konzentrationslager zuzuführen.“
Im Februar 1995 erschlugen sieben Neonazis in Velbert den 65jährigen Horst Pulter, er schlief auf einer Bank im Stadtpark. Seit 1990 erging es zahlreichen Wohnungslosen wie ihm. “Penner klatschen“ nennen es die Neonazis.
Im Januar 2001 gründet der Jazzmusiker Alessandro Palmitessa in Köln das Menschensinfonieorchester. Ein sonderbares, ein wunderbares Ensemble: 16 Mitglieder, die einen sesshaft, die anderen nicht. Ein Gitarrist aus Wattenscheid, ein Bassist aus Zürich, ein Trommler aus dem Iran. Eine Gitarre aus dem Müll, eine zerbeulte Posaune und ein Bass, der aus einer Teekiste, einem Besenstiel und einer Wäscheleine besteht. Weltmusik der Straße von Menschen, die auf der Straße leben.
Am Abend vor dem Konzert referiert Wolfgang Ayaß über “Die Fürsorge der Nazis”, nämlich die Verfolgung der „Asozialen“ und „Arbeitsscheuen“, wie es im Nazi-Jargon lautet: „Nicht mehr das bedürftige Individuum stand im Mittelpunkt der Fürsorgepolitik, sondern die zu stärkende Volksgemeinschaft. Ziel war nicht die Integration der Unangepassten und Abweichenden, sondern deren Ausgrenzung und ‚Ausmerzung‘.“
Schönberg Mahler Weill | 2005
Seine 2. Sinfonie begann Kurt Weill im Januar 19433 im Angesicht des aufhaltsamen Aufstiegs der Nazi-Barbarei. Wenige Wochen später musste er aus Deutschland fliehen, seine Musik wurde verboten, seine Notenpapiere verbrannt. Die “deutsche Musik”, erklärte Reichskulturminister Goebbels, müsse “gesäubert” werden. Selbst die Werke bereits verstorbener Künstler wie Gustav Mahler wurden aus den Spielplänen gestrichen. “Weggefegt”, wie Goebbels sich ausdrückte.
Kurt Weill, Arnold Schönberg, Gustav Mahler: So unterschiedlich ihre Werke sind, gemeinsam war ihnen in der Tat eine neue musikalische Sprache, das, was Schönberg die “Freiheit des Ausdrucks” nannte. Freier Ausdruck galt als “undeutsch”, im Mai 1938 erklärte Goebbels den Vollzug: “Das deutsche musikalische Leben ist endgültig gesäubert.”
Als “Säuberungsaktion” haben die Nazis später auch den Mord an Millionen europäischer Bürger bezeichnet, Künstler und Komponisten wie Viktor Ullmann, Hans Krása und Pavel Haas wurden in Auschwitz ermordet.
Der Abend eröffnete mit Schönbergs “Friede auf Erden”, dann die “Kindertotenlieder” von Mahler, schließlich die 2. Sinfonie von Kurt Weill, dargeboten von der Altistin Edna Prochnik aus Tel Aviv, Mitgliedern der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Arno Hartmann, im szenischen Dialog mit Lesungen von OB Dr. Ottilie Scholz, Superintendent Fred Sobiech, Propst Hermann-Josef Bittern sowie dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Gregorij Rabinovich.
Michael Degen | 2004
In Nazi-Deutschland unterzutauchen, gelang nur Wenigen, im Untergrund zu überleben, den Allerwenigsten. Ihr größtes Risiko: die Denunziation. “Ich fürchte die Menschen mehr als die Bomben”, heißt es im Tagebuch von Erna Becker, die in Berlin untergetaucht war wie Michael Degen.
Degen selber war die Flucht gelungen, als er, 11 Jahre alt, deportiert werden sollte. Seinen Vater hatten die Nazis ermordet, er und seine Mutter Anna überlebten, versteckt von Freunden und von Fremden. “Leitfiguren der Menschlichkeit”, nennt Degen sie, “ganz normale Menschen”.
Zwei Jahre lang retteten sich Mutter und Sohn von Tag zu Tag, überstanden Ausweiskontrollen, überlebten den Bombenhagel. Während die anderen in ihre Luftschutzkeller flohen, saßen sie im vierten Stockwerk fest “und wären bei jedem Treffer dran gewesen”:
“Dann krachte es wieder. Der ganze Ku´damm schien zu wackeln. Ein paar Blockwarte rannten wie aufgescheuchtes Geflügel herum. Wir standen ganz allein und schauten. Es krachte, knisterte, ballerte, und wir sahen zu, ohne Angst, mit einer ganz tiefen Befriedigung.”
Die sich übertragen hat auf uns, die ihm zuhörten. Was für ein Hören, Degen ist ein Mensch – man muss es altmodisch formulieren – voller Güte. Er macht, indem er erzählt, den Unterschied klar, auf den es ankommt: dass der Einzelne wichtiger ist als ein Ganzes. Das hatten die Wenigen, die ihr Leben riskierten, um seines zu retten, begriffen: Märtchen, Oma Teuber, Karl Hotze, Erna Niehoff, “ganz normale Menschen”.
Bente Kahan | 2003
Neben Giora Feidman gilt sie als die bedeutendste Interpretin jüdischer Musik in Europa. “Home”, so der Titel ihres Programms, erzählt in zehn Liedern aus zehn europäischen Ländern die Geschichte ihrer Familie, es ist die des europäischen Judentums:
“Überall sind Spuren, eine Synagoge, ein Friedhof, ein Lied: Hinweise darauf, dass es sich dort einmal Zuhause gefühlt hat”
Und überall wieder fühlen soll. Jüdisch beispielsweise das Lied Dona Dona, heute als Protestsong auf jeder besseren Demo bekannt, wurde in Jiddisch geschrieben für die Menschen im Warschauer Ghetto. Im April 1943 hat hier der Aufstand gegen die Nazi-Barbarei begonnen, wer immer das Lied heute singt, zitiert sich selber in diese Tradition.
Es ist auch die von Rebekka, dem polnischen Mädchen, das sich einen Märchenprinzen erträumt: Ein Schlager aus den 30er Jahren, er sei, sagt Bente Kahan, heute noch populär, “auch wenn es keine Rebekkas in Polen mehr gibt.”
Coco Schumann | 2002
“Immer, wenn ich übe, besiege ich Adolf Hitler.”
Coco hat die Idee für das gestiftet, was wir als Christuskirche versuchen. Er hat immer darauf bestanden, dass er nicht deshalb Musik macht, weil er – erst Theresienstadt, dann Auschwitz, dann Dachau – eigentlich hätte ermordet sein sollen, sondern dass er seiner Ermordung entkam, weil er Musik gemacht hat. Und dass dies – das Musikmachen, das Entkommen, das Üben – sein gesamtes Leben ausgefüllt hat.
Das sagt nichts aus über Musik, musizieren können auch Nazis. Es sagt alles aus darüber, wie man Musik macht. Ob zum Schlag der Trommel oder mit Cocos Swing, der nicht zum Gleichschritt taugt:
I got rhythm, I got music, I got my girl, who could ask for anything more …
Giora Feidman | 2001
“Dance of Joy”? Titel von Feidmans Programm. An diesem Tag? An dem wir versuchen, der sechs und mehr Millionen Menschen zu gedenken, die unschuldig ermordet worden sind?
Man hätte, wie die Ruhr-Nachrichten tags darauf schrieben, “keinen besseren Musiker für dieses Konzert engagieren können”. Feidman weitet die Perspektiven. Einen Tag zuvor noch hatte Bundespräsident Johannes Rau von einem gewissen “Unbehagen” gesprochen, “ja Unwillen gegenüber dem, was als verordnetes Erinnern empfunden wird”, dann das:
Kein Konzert zum “Tag des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialisti” usw., wie der Tag offiziell heißt, sondern zum “Tag der Befreiung”.
Weil zur Befreiung gehört, frei sein zu wollen. Deswegen fällt der Tag der Befreiung nicht auf den 8. Mai, sondern auf den 27. Januar.